Krankheitsfolgen-Behandlung

Erstellt am 14 Apr 2017 19:07 - Zuletzt geändert: 16 May 2018 16:52

Dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung liegt ein juristischer Krankheitsbegriff (§ 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V) zugrunde. Krankheit ist danach ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Regelwidrigkeit ist gegeben, wenn der Körper- oder Geisteszustand eines Versicherten vom Leitbild des gesunden Menschen abweicht und er deshalb nicht mehr in der Lage ist, die normalen psychophysischen Funktionen auszuüben (Bundessozialgericht, Urteile vom 17. Februar 2010, B 1 KR 10/09 R; vom 16. November 1999, B 1 KR 9/97 R; vom 11. September 2012, B 1 KR 3/12).

Teilweise unterschiedlich bewertet werden im Sozialrecht aber die Folgen einer Krankheit oder die gesundheitlichen Folgen einer Behandlung.

Für Nebenwirkungen einer medizinisch erforderlichen Arzneitherapie enthält die Arzneimittelrichtlinie Bestimmungen in § 12 Abs. 7 und 8. Danach können auch nicht-verschreibungspflichtige Arzneimittel zu Lasten der GKV verordnungsfähig sein, wenn dies in der Fachinformation des Hauptarzneimittels vorgeschrieben oder zur Behandlung einer Nebenwirkung erforderlich ist1.

Das Bundessozialgericht hatte in einer Entscheidung vom 24.01.1990 (Az.: 3 RK 18/88) festgestellt, dass hormonelle Kontrazeptiva auch bei über 20-jährigen Versicherten nicht generell als verschreibungsfähige Arzneimittel ausscheiden, wenn deren Einnahme krankheitsbedingt erforderlich ist, weil diese eine mittelbare Wirkung auf die Krankheit ausüben.
In einer Entscheidung über eine Beinverlängerungsoperation formulierte des LSG Hessen am 04.12.1991 unter Berufung auf das BSG-Urteil vom 24.01.1990 (L 3/8 KR 373/86):

Andererseits ist es nicht erforderlich, daß die ärztliche Tätigkeit unmittelbar an der eigentlichen Krankheit selbst ansetzt.

Diese Rechtsprechung wurde in vielfachen Entscheidungen seither in gleicher Weise von den Sozialgerichten weiter verfolgt, so vom LSG Nordrhein-Westfalen am 20.07.2010 (L 9 SO 39/08); vom SG Hamburg am 05.02.2014 (S 37 KR 469/11) usw.

BSG, Urt. v. 17. Februar 2010 – B 1 KR 10/09 R
(Der Fall wurde zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.)

Leitsätze des Gerichts:
1. Krankheit ist nicht nur der krankheitsbedingte Eintritt der Empfängnisunfähigkeit, sondern auch die wegen der Therapie einer Krankheit konkret drohende Empfängnisunfähigkeit.
2. Der Versicherungsfall der Krankheit ist in Abgrenzung zu dem Versicherungsfall der Herbeiführung einer Schwangerschaft betroffen, wenn die Behandlung dazu führen soll, auf natürlichem Weg Kinder zu zeugen.

In einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 05.05.2010; Az. B 6 KA 20/09 R , (Arzneikostenregress wegen der Verordnung des Arzneimittels Polyglobin) hatte das BSG hervorgehoben, dass eine Behandlungsmethode auch dann gerechtfertigt werden könnte, wenn sie auf eine weitere Gesundheitsstörung zielt, um die erfolgversprechende Behandlung des Hauptleidens zu ermöglichen.
Hierfür müssen die übrigen Voraussetzungen eingehalten sein, nämlich das Bestehen einer lebensbedrohlichen oder vergleichbaren Haupterkrankung und die Alternativlosigkeit bei der Behandlung der weiteren Gesundheitsstörung.

Hier das Zitat aus dem Urteil:

Das LSG ist in Übereinstimmung mit der Revision zutreffend davon ausgegangen, dass der Versicherte M. an einer schwerwiegenden Erkrankung (Hodenkarzinom) gelitten hat. Ob zu dessen kausaler Behandlung bei Fehlen einer allgemein anerkannten, medizinischem Standard entsprechenden Behandlungsmethode nach der Rechtsprechung des BVerfG ein Arzneimittel auch außerhalb seiner Zulassungsindikation hätte eingesetzt werden dürfen, wenn nach der vorhandenen Studienlage auf diese Weise die nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf positive Behandlungserfolge bestanden hätte (BVerfGE 115, 25, 49 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 33), kann offen bleiben. Das nehmen die Kläger nämlich selbst für die Verordnung von Polyglobin nicht an. Sie gehen vielmehr davon aus, dass der Versicherte M. an einem Antikörpermangel litt, der unbehandelt eine Fortführung der notwendigen Chemotherapie erschwert hätte oder hat. Wenn die Rechtsprechung des BVerfG auf diese Konstellation Anwendung finden sollte, was der Senat entgegen der Auffassung des LSG nicht von vornherein für ausgeschlossen hält, müssen jedenfalls die Anforderungen an einen zulässigen Off-Label-Use entsprechend erfüllt sein. Es muss deshalb feststehen, dass der Patient neben der besonders schwerwiegenden Erkrankung (Karzinom) an einer weiteren Gesundheitsstörung gelitten hat, die die Anwendung aller zur Behandlung des Hauptleidens in Betracht kommenden Behandlungsmöglichkeiten ausschließt. Weiterhin muss der Off-Label-Einsatz des anzuwendenden Arzneimittels mit gewisser Wahrscheinlichkeit die zweite Erkrankung so beeinflussen, dass eine Erfolg versprechende Behandlung des Hauptleidens wieder oder erstmals möglich wird. Schließlich darf es für die zweite Erkrankung keine anerkannten Behandlungsmöglichkeiten - zB mit entsprechend zugelassenen Arzneimitteln - geben. Diese Voraussetzungen sind hier jedenfalls nicht - wie es notwendig wäre, um der Klage zum Erfolg zu verhelfen - kumulativ erfüllt.



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