H.E.L.P.-Apherese bei Hoersturz

Erstellt am 03 Aug 2010 16:55 - Zuletzt geändert: 11 Jun 2017 22:45

Der akute Hörsturz ist ein plötzlicher Hörverlust oder eine schwere plötzliche Beeinträchtigung des Hörens mit einer Inzidenz von 8 bis 15 auf 100.000 pro Jahr. Die Ursache und die Pathophysiologie sind bisher unklar. Der Hörsturz kann mit einem Tinnitus kombiniert sein.
Es existiert eine Vielzahl von therapeutischen Ansätzen, einschließlich der Gabe von Antidepressiva, Benzodiazepinen und anderen Arzneimitteln sowie eine große Zahl von Empfehlungen zur nicht-medikamentösen Therapie. Für keine der angewandten Therapien gibt es bisher einen Wirksamkeitsnachweis.
Der Hörsturz hat eine hohe Rate von Spontanheilungen bis zu 65%. Daher ist es im Einzelfall kaum möglich, zu erkennen, ob eine Besserung der Symptomatik Folge des Spontanverlaufes oder der Therapie ist.
Aus diesem Grunde ist es unbedingt erforderlich, für den Wirksamkeitsnachweis einer Behandlung beim Hörsturz eine so genannte randomisierte, kontrollierte Studie durchzuführen, in der die Prüftherapie mit dem natürlichen Verlauf verglichen wird.
Die Apherese wird in der Behandlung des Hörsturzes im Allgemeinen unter der Vorstellung eingesetzt, dass die Fliesseigenschaften des Blutes verbessert werden können, sofern dies die Ursache des Hörsturzes ist.

In einer ausführlichen Bewertung der Wirksamkeit und des Nutzens der Apherese beim Hörsturz hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA; früher Bundesausschuss Ärzte und Krankenversicherung) entschieden, dass nach detaillierter Beratung der Unterlagen und ihrer Auswertung der Nutzen der Apherese in dieser Indikation vor dem Hintergrund der ungenügenden Datenlage nicht als belegt angesehen werden kann. Die Aufnahme in die vertragsärztliche Versorgung in dieser Indikation wurde deshalb abgelehnt. Diese Methode kann in dieser Indikation daher zu Lasten der GKV nicht erbracht werden.

Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine betagte Patientin. Der Literatur ist zu entnehmen, dass im höheren Lebensalter das Hörvermögen im Bereich der hohen Frequenzen bei den meisten Menschen absinkt.

Gemäß einer Expertise zum Altenbericht der Bundesregierung von 2002 weisen 45,3% der älteren Männer und 43,3% der älteren Frauen eine sensorische Beeinträchtigung des Hörens auf mit Audiometrie-Hörschwellen von mehr als 55 dB im Sprachbereich (0,25-2kHz) und/oder von mehr als 75 dB im Frequenzbereich von 3-8 kHz.

Zur Verdeutlichung soll folgende Abbildung dienen, welche die Abnahme der Hörschärfe mit zunehmendem Alter aufzeigt:

Abb. nach Hinchcliffe(1959), entnommen aus Dahl und Rott (2002).

Bereits die Berliner Alterstudie hatte gezeigt, dass bei 30 % aller über 65-Jährigen gravierende Höreinbußen vorliegen, so dass eine Hörhilfe verordnet werden muss (Tesch-Römer 2001).

Insgesamt zeigen die Daten der Berliner Altersstudie (vgl. Abbildung) mit zunehmendem Alter eine Verschlechterung der Hörschwelle bei zunehmender Frequenz. Hochaltrige Teilnehmerinnen und Teilnehmer (85 bis 89, 90 bis 94 und über 95 Jahre) der Berliner Altersstudie zeigten insgesamt die gravierendsten Einbußen des Hörvermögens.

Das Hörvermögen kann nur im Vergleich zu ähnlich hochaltrigen Personen beurteilt werden. Das Hörminderung sollte an dem in dieser Altersgruppe zu erwartenden Hörvermögen gemessen werden - dem individuellen Lebensalter kann ein gegenüber jungen Erwachsenen deutlich vermindertes Hörvermögen entsprechen.

Weicht das Hörvermögen nur geringfügig von dem entsprechenden Altersdurchschnitt nach unten ab, so liegt keine Ertaubung vor.
Eine einseitig an die Ertaubungsgrenze reichende Einschränkung des Hörvermögens bei weitgehend dem Altersdurchschnitt entsprechenden Gehör auf der anderen Seite, entspricht nicht der Definition einer vorhandenen oder drohenden Ertaubung.

Eine Leistungsausweitung kommt nach der Begutachtungsanleitung NUB vom 8.10.2008 nur in Betracht, wenn eine lebensbedrohliche oder gleichzustellende Erkrankung besteht, die zwingend zum Tode oder zu einer schweren, irreversiblen Behinderung (z. B. Erblindung) oder Pflegebedürftigkeit führt und zu deren Behandlung allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungen nicht zur Verfügung stehen - und wenn gleichzeitig bei Anwen-dung der beantragten Methode eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
Somit ist eine sozialmedizinische Bewertung im Hinblick auf eine grundrechtskonforme Auslegung des Leistungsanspruchs hinsichtlich der H.E.L.P.-Apherese nur erforderlich, wenn im Einzelfall eine drohende Ertaubung aus den Informationen erkennbar ist.

Im Hinblick auf die mögliche Notwendigkeit einer grundrechtskonformen Interpretation im Einzelfall erfolgte unter der Fragestellung, ob vielleicht aktuelle, vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) noch nicht gewertete Erkenntnisse vorliegen, eine Recherche in der weltgrößte Datenbank medizinischer Literatur, die MEDLINE.
Es wurde systematisch nach Studien-Publikationen gesucht, die nach der Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) publiziert wurden. Hierbei konnten insgesamt vierzehn Publikationen gefunden werden. Darunter befanden sich zwei randomisierte klinische Studien.
Da die hohe Spontanheilungsrate beim Hörsturz keine Unterscheidung zwischen Spontanheilung und Therapiewirkung erlaubt, wenn die Untersuchung nicht streng randomisiert und kontrolliert durchgeführt wird, können für eine belastbare Wirksamkeitsaussage beim Hörsturz grundsätzlich nur randomisierte Studien mit einer Kontrollgruppe herangezogen werden.

Bei einer der gefundenen randomisierten, kontrollierte Studien handelt sich um eine Studie an insgesamt 201 Hörsturz-Patienten (Suckfüll et al. 2002; Suckfüll et al. 2003). Es wurde die H.E.L.P.-Apherese mit der Standardinfusionstherapie (und nicht mit dem natürlichen Verlauf) verglichen. Dabei zeigte sich in der statistischen Auswertung 6 Wochen nach der Therapie kein statistisch signifikanter Unterschied bezüglich des audiometrisch gemessenen Hörvermögens der Studienteilnehmer.
In der Publikation wird sehr deutlich betont, dass es in einer Auswertung des Sprachverständ-nisses 48 Stunden nach Therapiebeginn einen kleinen, aber statistisch signifikanten Unterschied zugunsten der H.E.L.P.-Apherese -Gruppe gegeben habe.
Sechs Wochen nach Therapieende war das Hörverständnis in der mit H.E.L.P.-Apherese behandelten Gruppe nicht signifikant verschieden von dem der konventionell behandelten Gruppe
Hierzu ist zu bemerken, dass für Patienten die langfristige Besserung des Hörvermögens entscheidend ist. Kurzfristige Besserungen, die sich zurückbilden, können nicht Grundlage therapeutischer Entscheidungen sein.

Es kann aus den Publikationen von Suckfüll und Ko-Autoren nicht mit ausreichender Evidenz abgeleitet werden, dass die H.E.L.P.-Apherese für Patienten mit Hörsturz einen größeren Nutzen als die konventionelle Therapie bringt. Ein objektiver Vorteil der H.E.L.P.-Apherese ist durch diese Studie nicht belegt.

Eine aktuellere randomisierte kontrollierte Studie ist 2009 im Druck erschienen (Mösges et al. 2009). In dieser Studie konnte keine Überlegenheit der Apheresetherapie gegenüber einer konventionellen medikamentösen Therapie mit Corticosteroiden oder einer Hämodilutionstherapie gefunden werden. Die Studie war allerdings als so genannte „Nicht-Unterlegenheits-Studie“ angelegt und konnte in dieser Hinsicht zeigen, dass die Apherese der konventionellen Therapie - bei dem gewählten statistischen Sicherheitsfaktor - nicht signifikant unterlegen war. Ein positiver Wirksamkeitsbeleg kann mit einer solchen „Nicht-Unterlegenheits-Studie“ beim Hörsturz nicht erbracht werden, da für die konventionelle Therapie beim Hörsturz eine statistisch robuste Wirksamkeitsschätzung nicht möglich ist. Anzumerken ist zu dieser Studie des Weiteren, dass die konventionelle Therapie in der statistischen Auswertung eine Tendenz zu besserer Wirksamkeit zeigte, die aber bei dem gewählten Aufbau (Design) und Auswertungsplan der Studie keine statistische Signifikanz erreichte. Zu erwähnen ist, dass in dieser Studie zwei schwerwiegende unerwünschte Ereignisse bei einem Apherese-Patienten dokumentiert wurden. Insgesamt traten acht von zehn beobachteten unerwünschten Ereignissen in der Apherese-Gruppe auf.
Ein spezifischer Effekt der Fibrinogen- oder Cholesterin-Senkung konnte in dieser Studie nicht gezeigt werden.

Verschiedene systematische wissenschaftliche Übersichtsarbeiten haben sich des Themas der „Apherese beim Hörsturz“ angenommen. Eine systematische Übersichtsarbeit (Review) von Finger und Gostian aus dem Jahr 2006 kommt in einer ausführlichen Würdigung der wissenschaftlichen Datenlage zu dem Schluss, dass für keine Therapie eine eindeutige Wirksamkeit zu belegen ist. Dies gilt auch für die Apherese-Therapie.

Eine weitere Suche in der wissenschaftlichen Datenbank des DIMDI nach so genannten Health Technology Assessments (HTA-Berichten), ergab einen HTA-Bericht mit dem Thema „Therapie des unspezifischen Tinnitus ohne organische Ursache“ aus dem Jahr 2006. Dieser HTA-Bericht kommt zu dem Schluss, dass keine wissenschaftlichen Belege für eine effektive Therapie bei einem seit mehr als 1 Monat bestehenden Hörsturz existieren.

Aktuell wird an der HNO-Universitätsklinik Leipzig eine Studie zur H.E.L.P.-Apherese bei Hörsturz durchgeführt. Ergebnisse aus dieser Studie liegen bis dato nicht vor.1

Aussagen des Leiters dieser Studie, Prof. Andreas Dietz und Direktor der HNO-Universitätsklinik Leipzig, im Deutschen Ärzteblatt vom 16.03.2007 sprechen dafür, dass die Methode möglichst innerhalb von drei Tagen nach Einsetzen der Symptome angewendet werden muss. Den eingereichten Unterlagen lässt sich nicht entnehmen, wie lange die Symptome bei der Patientin bestanden, bevor die H.E.L.P.-Apherese begonnen wurde.

Hinsichtlich der Wirksamkeit der H.E.L.P.-Apherese bei Hörsturz kann abschließend anhand des aktuellen Standes der Wissenschaft resümiert werden, dass es sich um eine Methode handelt, die trotz seit Jahren durchgeführter wissenschaftlicher Erforschung in ihrer Wirksam-keit nicht belegt ist. Die beste aktuelle Studie, die im Jahr 2009 publiziert wurde, konnte ledig-lich feststellen, dass die H.E.L.P.-Apherese bei Hörsturz nicht deutlich schlechter wirksam war als andere, anerkannte Verfahren.

Es ist aus den eingereichten Informationen nicht ersichtlich, ob - unabhängig von dem berichteten Hörsturz - bei dem bestehenden bzw. fortschreitenden Hörverlust der Patientin eine Versorgung mit einer Hörhilfe in Betracht gezogen wurde. Bei der medizinisch indizierten Versorgung mit einer Hörhilfe handelt es sich um eine Vertragsleistung.


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