Adipositas: Postbariatrische Chirurgie

Erstellt am 11 Oct 2021 21:22
Zuletzt geändert: 17 Mar 2023 13:22

ICD10: L98.7 - Überschüssige und erschlaffte Haut und Unterhaut
OPS: 5-91 - Andere Operationen an Haut und Unterhaut

Verbände, Experten, Definitionen

Grundlagen - Pittsburgh Rating Scale

Song AY, O'Toole JP, Jean RD, Hurwitz DJ, Fernstrom MH, Scott JA, Rubin JP. A Classification of Contour Deformities after Massive Weight Loss: Application of the Pittsburgh Rating Scale. Semin Plast Surg. 2006 Feb;20(1):24–9. doi: 10.1055/s-2006-932446. PMCID: PMC2884754.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2884754/

Erstveröffentlichung der Pittsburgh Rating Scale für die plastische Chirurgie.

Literatur zur Wiederherstellungschirurgie

Zeitfenster für die postbariatrische Wiederherstellungschirurgie

Bei den Patienten muß ein stabiles Körpergewicht mindestens über einen Zeitraum von 3 - 6 Monaten bestehen und der postbariatriche Eingriff sollte nicht vor 12 - 18 Monaten nach der bariatrischen Operation erfolgen. Wir bevorzugen dabei ein "multi stage - Vorgehen", das heißt, die Regel ist eine Sequenz von Eingriffen mit einem minimalen Zeitabstand von 3 Monaten. Dabei können die OP-Zeiten pro Sitzung unter 5 Stunden gehalten werden. Dieses Vorgehen führt gegenüber einem einzigen riesigen Maximaleingriff zu einer geringeren Patientenbelastung mit besserer Wundheilungssituation und zu einer Verkürzung des stationären Aufenthaltes und erleichtert ggf. auch eine notwendige operative Nachkorrektur.
Wir richten uns prinzipiell nach den individuell gegebenen Patientenprioritäten. Das stärkt erfahrungsgemäß die Motivation der Betroffenen. Natürlich gibt es auch eine Art sinnvolle Standardreihenfolge der Eingriffe, zum Beispiel mit einem lower body lift und der Abdominoplastik zu beginnen und gegebenenfalls Oberschenkel - und Gesäßstraffung anzuschließen, dann ein upper body lift mit den Brustkorrekturen sowie die Oberarmstraffung durchzuführen und schließlich,wenn notwendig, die Hals - und Gesichtsstraffung und Doppelkinn-Liposuktion vorzunehmen.

Postbariatrische Eingriffe zur Verbesserung der Körpersilhouette sollten erst angeboten werden, wenn das gewünschte Körpergewicht erreicht und zusätzlich über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten konstant gehalten wurde.

Gerichtsurteile

Der MDK habe in seiner Stellungnahme vom 15.09.2017 eine Regelabweichung im Sinne einer Entstellung verneint. Die Hautschürzen ließen sich durch entsprechende Kleidung kaschieren. Es bestehe nicht die Befürchtung mangelnder Integration, die Klägerin sei sportlich aktiv, eine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft scheine nicht gefährdet. Auch aus dermatologischer Sicht bestehe kein Anspruch auf eine Hautstraffungsoperation. Dies käme nur dann in Betracht, wenn durch den Hautüberschuss ständige Hautreizungen wie Pilzbefall, Sekretionen oder entzündliche Veränderungen aufträten, die sich als dauerhaft therapieresistent erwiesen. Den vorgelegten Attesten lasse sich nicht entnehmen, dass die Hautirritationen permanent vorlägen und eine Therapieresistenz hinsichtlich konventioneller Behandlungen bestehe.
Die überschüssige Haut an Brüsten und Oberarmen aufgrund Gewichtsverlustes nach einer bariatrischen Operation stellt für sich genommen keinen krankhaften oder regelwidrigen Körperzustand dar (siehe hierzu oben Nr.1). Die Klägerin hat im Hinblick auf diese Eingriffe keine ärztlichen Atteste vorgelegt, die entsprechende körperliche Einschränkungen belegen. … Unter Berücksichtigung der vorgelegten ärztlichen Atteste und der Gutachten des MDK ist eine Beeinträchtigung der Klägerin in ihren Körperfunktionen im Bereich der Oberarme und der Brust nicht gegeben. Der Senat sieht unter Berücksichtigung auch der vorgelegten Fotodokumentation auch eine Entstellung in diesen Körperbereichen nicht als gegeben an. Die überschüssige Haut in diesen Körperbereichen stellt zur Überzeugung des Senats im bekleideten Zustand nicht eine objektiv erhebliche Auffälligkeit im Sinne der Rechtsprechung des BSG zur Entstellung dar.

Leitsätze:
1. Überschüssige Haut an Brüsten und Oberarmen aufgrund Gewichtsverlustes nach einer bariatrischen Operation stellt für sich genommen keinen krankhaften Befund dar.
2. Grundsätzlich sind dermatologische Erkrankungen mit den Mitteln dieser Fachrichtung zu behandeln. Nur wenn trotz über einen längeren Zeitraum erfolgter fachdermatologischer Behandlung kein Erfolg erzielt werden kann, ist zu prüfen, ob als ultima ratio ein Anspruch auf Hautstraffung besteht.
3. Hautüberschüsse aufgrund einer Gewichtsreduktion nach einer bariatrischen Operation sind nicht mit einer Brustrekonstruktion bei Mammakarzinom vergleichbar. Im einen Fall geht es um den Ausgleich der unmittelbaren Folgen der Krankenbehandlung an dem erkrankten und von der Behandlung betroffenen Organ (Brust) und im anderen Fall um den mittelbaren Ausgleich an einem zunächst von der Krankheit (Adipositas) bzw. deren Behandlung (bariatrische Operation) nicht betroffenen Organ (Haut).

Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 03.11.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.10.2016 wird abgeändert. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin zwei postbariatrische Operationen an den Oberarmen und der Brust als Sachleistung zu gewähren.
II. Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Es ergebe sich aus den vorliegenden Unterlagen kein Hinweis auf tatsächlich ausgeschöpfte konservative Therapieansätze bezüglich des vorliegenden Intertrigo, wie z.B. die Applikation von dermatologischen Externa, wie Salben oder Lotionen, Hautschutzpasten oder die Einlage von mechanisch sitzenden Leinenläppchen. Zur Kostenübernahme der avisierten Straffung beider Oberarme, des Gesäßes und der Brust könne nicht geraten werden. Weiterhin schienen kosmetische Aspekte im Vordergrund zu stehen. … keine wesentlichen Bewegungseinschränkungen, chronisch rezidivierende, nicht therapierbare Ekzeme seien nicht nachgewiesen, …
Zwar sei die Gewichtsreduktion einerseits gewünscht gewesen und sei sie eines der Ziele der Magenbypass-Operation gewesen. Pathogenetisch betrachtet handele es sich hierbei um einen physiologischen Ablauf, der durch eine Veränderung der Körperzusammensetzung mit Rückgang des überschüssigen Fettanteils des Körpers im Abdomen nur subkutan bedingt sei. Dennoch liege mit der überschüssigen Haut und dem Haut-Haut-Kontakt ein Ergebnis vor, dass keinen physiologischen Zustand mehr darstelle, sondern einen regelwidrigen Körperzustand. Massive, überschüssige Hautareale mit Faltenbildung stellten keinen normalen Körperzustand des Menschen dar. Der vorliegende Befund sei als pathologisch zu werten. Die überschüssige Haut führe durch den Haut-Haut-Kontakt zu vermehrter Schweißbildung mit Geruchsbildung und intermittierender Hautreizung. Wenngleich das Kriterium der „Entstellung bei flüchtigem Anblick“, wie es in der Rechtsprechung in der Regel definiert werde, hierdurch nicht erfüllt sei, handele es sich dennoch um einen regelwidrigen Befund mit Entwicklung eines hohen Leidensdruckes bei der Klägerin. Direkte mechanische Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit liege im konkreten Fall nicht vor, allerdings entstünden dennoch funktionelle Beeinträchtigungen der Bewegungsabläufe in der Folge von Fehlhaltung, um die Reibung der Hautfalten oder Pendeln zu vermeiden. Trotz der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Adipositas ignorierten die Gutachter beim MDK regelmäßig diese psychische Belastung durch die Erkrankung und leiteten sowohl für die primären bariatrischen Operationen als auch für die Folgeoperationen im plastisch-rekonstruktiven Bereich keine Rechtfertigung für eine Operation ab. Diese Stigmatisierung erlebe auch die Klägerin. Bei der Begutachtung bzw. der Indikationsstellung zu einem korrigierenden Eingriff müsse immer auch der subjektive Leidensdruck der Patienten Berücksichtigung finden.
Die Beklagte hat unter dem 01.03.2018 eine Stellungnahme des MDK Bayern vom 06.02.2018 vorgelegt. Der MDK kommt in dieser Stellungnahme zu dem Ergebnis, die Adipositas sei unstrittig als Erkrankung im Sinne des SGB V bewertet worden. Daraus habe sich die Konsequenz ergeben, dass die Kosten einer Magenbypass-Operation zu Lasten der Solidargemeinschaft von der Beklagten übernommen worden seien. Im vorliegenden Falle gehe es jedoch nicht um die bereits operativ angegangene Adipositas, sondern um die Klärung der Frage, ob der durch die Bypass-Operation erschlafften „Bauchdecke“ ein Krankheitswert im Sinne des SGB V zuzurechnen sei. Dies sei weiter klar zu verneinen.
Auf der Grundlage des Gutachtens von Dr. E. vom 15.12.2017 hat die Kammer die volle Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin Anspruch auf Krankenhausbehandlung und eine Kostenübernahme der Operationen zur Oberarmstraffung beidseits und Bruststraffung beidseits hat. Das Gutachten von Dr. E. vom 15.12.2017 belegt, dass die -von allen behandelnden Ärzten der Klägerin und dem Universitätsklinikum E. - empfohlene mehrseitige Operation zur Oberarmstraffung beidseits und Bruststraffung beidseits eine geeignete Maßnahme ist, um die Gesundheit der Klägerin zu erhalten, wiederherzustellen oder den Gesundheitszustand der Klägerin zu bessern (vgl. § 1 Satz 1 SGB V). Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird Krankenhausbehandlung vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht. Nach § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V haben Versicherte Anspruch auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, dass die Gesundheitsstörungen der Klägerin - denn um solche handelt es sich nach dem Gutachten von Dr. E. vom 15.12.2017 bei den Hautüberschüssen im Oberarm- und Brustbereich - mit ambulanten Maßnahmen und ggf. psychiatrischen Maßnahmen behandelt werden kann. Diese Auffassung teilt die Kammer nicht. Im vorliegenden Fall handelt es sich bei den beantragten postbariatrischen Operationen auch nicht um Schönheitsoperationen, sondern um Operationen, die die Funktionsfähigkeit der Oberarme der Klägerin und die funktionalen Beschwerden der Klägerin im Brustbereich beheben werden, während die Beklagte die Klägerin auf eine dauerhafte -möglicherweise lebenslange - Symptombehandlung verweist.
Die Kammer vertritt die Auffassung, dass im vorliegenden Fall die Behebung der Dysfunktionen Vorrang hat vor einer dauerhaften Symptombehandlung. Die Entscheidung der Kammer widerspricht auch nicht der Vorschrift des § 2 Abs. 4 SGB V, wonach Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte darauf zu achten haben, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden. Mit den Operationen werden die Dysfunktionen (Haut-/Weichteilüberschuss) dauerhaft beseitigt mit der Folge, dass für die Beklagte künftig keine Kosten für die Symptombehandlung (Hautarzttermine, ggf. Arzneimittel) anfallen werden.

Die Beschwerde ist auch begründet. Der mit der Beschwerde gerügte Verfahrensmangel der Verletzung der Aufklärungspflicht liegt vor. Das LSG ist den in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gestellten Beweisanträgen der Klägerin zum Krankheitswert der Fettschürze und zu der Notwendigkeit ihrer operativen Beseitigung ohne hinreichenden Grund iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 iVm § 103 SGG nicht gefolgt…

WebLinks

Siehe auch in diesem Wiki


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