HBO bei Osteoradionekrose

Erstellt am 04 Jul 2011 15:15
Zuletzt geändert: 03 Dec 2018 20:01

Die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO-Therapie) wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA; früher „Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen“) mehrfach überprüft. Die letzte Beurteilung dieser Methode erfolgte im Jahr 2000, zu spezifischen Einzelindikationen erfolgten weitere Bewertungen in den Jahren 2003, 2004 und 2005.

Die entsprechenden systematischen Gesundheits-Technologie-Bewertungen (HTA-Berichte) überprüften die zu den jeweiligen Zeitpunkten vorliegende Literatur zur Behandlung mittels HBO-Therapie und insbesondere auch bei der Osteonekrose im Rahmen des Morbus Perthes. Betroffene Fachgesellschaften hatten Gelegenheit, Kommentare zu den Bewertungen der Methoden abzugeben, diese wurden berücksichtigt.

Nach abschließender Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der jeweiligen Berichtserstellung bekannten Literatur sowie der eingegangenen Stellungnahmen kam der Gemeinsame Bundesausschuss zu der Einschätzung, dass die Wirksamkeit der hyperbaren Sauerstofftherapie bei den Indikationen Osteoradionekrose, Femurkopfnekrose, Hüftkopfnekrose sowie auch bei der Nekrose im Rahmen eines Morbus Perthes nicht ausreichend belegt war, so dass eine Aufnahme in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen nicht empfohlen wurde.

Angesichts des relativ langen Zeitraums, der seit der abschließenden Bewertung durch den G-BA vergangen ist, ist zu prüfen, ob Veröffentlichungen zu dieser Methode, die nach dem Jahr 2000 erschienen sind, zu einer grundsätzlich anderen Bewertung der hyperbaren Sauerstofftherapie bei der aseptischen Osteonekrose führen.

Eine Recherche nach Publikationen zum Thema „Hyperbare Sauerstofftherapie“ und „Osteonekrose“ in der weltgrößten Datenbank medizinischer Literaturzitate, der Medline, erbrachte im Jahr 2011 nur wenige Publikationen, die seit Abschluss des Bewertungsverfahrens beim Gemeinsamen Bundesausschuss publiziert wurden.

Eine Publikation aus dem Jahr 2004 stammt aus der Klinik für Pädiatrische Onkologie, - Hämatologie und - Immunologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Bernbeck et al. 2004). Es handelt sich um eine Fall-Kontroll-Studie, in deren Rahmen 27 Patienten mit Knochenmarksödem oder Osteonekrose bei akuter lymphatischer Leukämie oder Non-Hodgkin-Lymphom behandelt wurden. Eine Gruppe erhielt hyperbare Sauerstofftherapie, die andere Gruppe bekam lediglich die Standardtherapie. Es zeigte sich, dass bei den mit hyperbarem Sauerstoff behandelten Jungen im Laufe der Studiendauer die aseptische Knochennekrosen-Anzahl weniger abnahm als unter Standardtherapie. Bei Mädchen, die älter als 10 Jahre waren, zeigte sich sowohl in der sauerstoffbehandelten als auch in der nicht behandelten Gruppe eine Zunahme der aseptischen Knochennekrosen. Insgesamt konnte diese Studie keinen Nachweis erbringen, dass die Therapie mittels hyperbarem Sauerstoff bei Kindern über 10 Jahren einen günstigen Effekt auf Knochenmarksödeme oder aseptische Osteonekrosen hat. Die Studie ergab sogar Hinweise auf eine Verschlechterung der Ergebnisse unter hyperbarer Sauerstofftherapie.

2004 wurden auch die Ergebnisse einer randomisierten kontrollierten multizentrischen Studie mit 68 Patienten mit Kiefer-Osteonekrosen publiziert (Annane et al. 2004). Die Patienten erhielten entweder 30 bis 40 Druckkammerbehandlungen oder Placebo-Behandlungen mit einem Atmosphärendruck von 2,4 Atmosphären für jeweils 90 Minuten. Die Heilungsraten waren nicht signifikant verschieden – jedoch zeigte sich eine Tendenz für ein schlechteres Abschneiden der Patienten unter hyperbarer Sauerstofftherapie (Heilungsrate 19% unter HBO-Therapie versus 32% unter Placebo). Auch wenn es sich um eine vergleichsweise kleine Studie handelt und die Ergebnisse für eine mögliche Schadwirkung nicht statistisch signifikant waren, so wirft das Ergebnis dieser Studie doch ernsthafte Zweifel an der Sicherheit und Unbedenklichkeit der HBO-Therapie zur Behandlung von Osteonekrosen auf.

Eine unkontrollierte Fallserie aus dem Universitätsspital Zürich (Baltensperger) von 2004 berichtete über einen kombinierten Therapieansatz (Antibiose, Resektion, HBO-Therapie) bei Patienten mit Kieferosteomyelitis nach Bestrahlung. Bei 11 von 30 Patienten konnte eine Remission erzielt werden. Welchen Beitrag die HBO-Therapie zu den Remissionen hatte, ist aufgrund des Studiendesigns nicht zu ermitteln: Im Übrigen erklären die Autoren selbst, dass die Therapieergebnisse keineswegs überzeugend oder befriedigend waren. Sie plädieren daher für eine bessere Subklassifikation der von Kieferosteomyelitis betroffenen Patienten.

Eine Publikation einer Fallserie mit insgesamt 16 Patienten mit Kieferosteonekrosen aus dem Jahr 2007 (Freiberger et al. 2007) konnte keinen definitiven Vorteil einer HBO-Therapie nachweisen, die effektivste therapeutische Intervention in dieser Studie war die Beendigung einer laufenden Bisphosphonattherapie.

Eine Studie aus der Kiefer- und Plastischen Gesichtschirurgie der Universität Düsseldorf (Handschel 2007) untersucht eine unkontrollierte Fallserie von 27 Patienten mit Osteonekrosen im Kiefer. In dem wenig belastbaren methodischen Design (unkontrollierte, nicht sicher konsekutive Fallserie, Bildung von drei sehr kleinen Gruppen) ist der in dieser Studie gewählte Ergebnisparameter, klinische Schmerz- und Schwellungseinschätzung, problematisch. Mit einem kombinierten Therapieschema mittels chirurgischer Revision, Antibiose und HBO-Therapie wurde bei 11 bzw. 13 der insgesamt 27 Patienten ein Verschwinden bzw. eine Besserung der Symptome erzielt. Ein Patient, der eine Bisphosphonat-induzierte Knochen-Nekrose hatte, konnte im Rahmen der Studie überhaupt nicht gebessert werden – die Autoren schreiben, dass er „… gegenüber den [… …] Therapien resistent war…“.

Eine weitere, im Jahr 2007 publizierte Studie (D'Souza) berichtet die Ergebnisse einer 8-jährigen Interventionsstudie mit 23 eingeschlossenen Patienten mit Osteoradionekrosen, die anhand klinischer und radiologischer Kriterien in drei verschiedene Schweregradgruppen eingeteilt wurden. Es handelt sich um eine kontrollierte Studie, eine Patientengruppe erhielt HBO-Therapie, die andere nicht. Am Ende der Studie waren 12,5 % der Patienten unter HBO-Therapie krankheitsfrei, in der Gruppe ohne HBO-Therapie waren es 86%. Die Studie ergab somit Hinweise auf eine mögliche Verschlechterung der Ergebnisse unter hyperbarer Sauerstofftherapie. Angesichts der kleinen Fallzahl empfehlen die Autoren der Studie weitere randomisierte klinische Studien mit größeren Fallzahlen.

Ein neuer Erkenntnisstand zeigte sich bei einer erneuten Recherche im Jahr 2018:

Ein systematischer Review der Cochrane Collaboration Hyperbaric oxygen therapy for the treatment of the late effects of radiotherapy aus dem Jahr 2016 fand moderate Evidenz für eine mögliche positive Wirksamkeit der hyperbaren Sauerstofftherapie zur Behandlung von Strahlentherapie-Folgen.

Die Europäische Gesellschaft für hyperbare Medizin (European Committee for Hyperbaric Medicine - ECHM) führt in ihren Empfehlungen aus dem Jahr 2017 strahlenbedingte Schädigungen und speziell die Osteoradionekrose als Indikationen auf, für die auf der Grundlage moderater Evidenz und starkem Expertenkonsens eine positive Indikationsempfehlung ausgesprochen wird. (Mathieu D, Marroni A, Kot J. Tenth European Consensus Conference on Hyperbaric Medicine: recommendations for accepted and non-accepted clinical indications and practice of hyperbaric oxygen treatment. Diving Hyperb Med. 2017 Mar;47(1):24-32. PMID: 28357821).

Durch die - moderat evidenzbasierten - Empfehlungen der großen internationalen Gesellschaften für hyperbare Medizin wird die Indikation einer hyperbaren Sauerstofftherapie bei radiogener Osteonekrose gestützt.

Der Bundesausschuss der Ärzte/Krankenkassen (jetzt Gemeinsamer Bundesausschuss; G-BA) hat im Jahr 2000 die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO-Therapie) nicht in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen, weil die Datenlage zum damaligen Zeitpunkt nicht ausreichend war, um eine Wirksamkeit bei Osteonekrosen belegen zu können.

Die Sichtung der neueren Literatur lässt erkennen, dass in begründeten Einzelfällen auf dem derzeitigen Erkenntnisstand eine Empfehlung der hyperbaren Sauerstofftherapie bei radiogenen Osteonekrosen in Würdigung der Umstände des Einzelfalles angezeigt sein kann, auch wenn die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nach wie vor nicht geeignet sind, um eine Überlegenheit und den Nutzen der Methode zur Behandlung radiogener Osteonekrosen völlig zweifelsfrei zu belegen.

Es ist diesbezüglich festzuhalten, dass sich die Richtlinienbeschlüsse des G-BA auf den Regelfall beziehen und bereits in der Verfahrensordnung des G-BA ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass in Einzelfall beispielsweise ein erweiterter Leistungsanspruch auf verfassungsrechtlicher Grundlage bestehen kann.

Diesbezüglich ist im vorliegenden Fall aus medizinischer Sicht auf die notwendige Nutzen-Schadens-Abwägung hinzuweisen, die jeder medizinischen Therapie vorzugehen hat. Hinsichtlich der vorhandenen vertragsärztlichen Behandlungsalternativen bestehen vergleichsweise hohe Risiken, wohingegen sich der Literatur in konsistenter Weise, ein vergleichbar geringes Risiko der hyperbaren Sauerstofftherapie entnehmen lässt.

Für den vorliegenden Einzelfall könnte sich somit eine positive Bewertung der Therapie aus medizinischer Sicht ergeben, da die Erkrankung schwerwiegend und die Situation in therapeutischer Hinsicht ohne Alternativen mit besserem Nutzen-Schadens-Potential ist. Aus rein medizinischer Sicht rechtfertigt aufgrund der vorliegenden Hinweisen auf mögliche positive Wirksamkeit der HBO-Therapie die individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung einen entsprechenden Therapieversuch.

Anzumerken ist, dass durch den Gemeinsamen Bundesausschuss hyperbare Sauerstofftherapie im Rahmen der Krankenhausbehandlung für einige lebensbedrohliche Indikationen bereits ausdrücklich anerkannt wurde. Die Behandlung von Hüftkopfnekrose im Rahmen eines Morbus Perthes sowie die idiopathische Femurkopfnekrose des Erwachsenen wurde zwar ausdrücklich ausgeschlossen; nicht jedoch die hyperbare Sauerstofftherapie von Osteoradionekrosen.

Bei einer Krankheitsentwicklung, in deren Verlauf Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit entsteht, könnte somit eine HBO-Therapie im Krankenhaus im Rahmen der GKV Anwendung als Regelleistung finden.

Im Hinblick auf die medizinischen Aspekte des Einzelfalles und unter besonderer Berücksichtigung der übereinstimmenden Aussagen in der Literatur, wonach die Chancen für gute Behandlungsergebnisse mit fortschreitender Knochenzerstörung immer geringer werden, wäre ein möglichst frühzeitig einsetzender ambulanter Therapieversuch mit der hyperbaren Sauerstofftherapie als medizinisch sinnvoll und auch als wahrscheinlich wirtschaftlich günstige Behandlungsoption anzusehen, da aus der Datenlage eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür abzuleiten ist, dass eine stationäre Behandlungsnotwendigkeit zumindest in einem Teil der so behandelten Fälle erfolgreich abgewendet werden kann.

Literatur:

Annane D, Depondt J, Aubert P, et al. Hyperbaric oxygen therapy for radionecrosis of the jaw: a randomized, placebo-controlled, double-blind trial from the ORN96 study group. J Clin Oncol 2004; 22:4893.

Bedogni A, Blandamura S, Lokmic Z, Palumbo C, Ragazzo M, Ferrari F, Tregnaghi A, Pietrogrande F, Procopio O, Saia G, Ferretti M, Bedogni G, Chiarini L, Ferronato G, Ninfo V, Lo Russo L, Lo Muzio L, Nocini PF. Bisphosphonate-associated jawbone osteonecrosis: a correlation between imaging techniques and histopathology. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod. 2008 Mar;105(3):358-64.

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D'Souza J, Goru J, Goru S, Brown J, Vaughan ED, Rogers SN.  The influence of hyperbaric oxygen on the outcome of patients treated for osteoradionecrosis: 8 year study. Int J Oral Maxillofac Surg. 2007 Sep;36(9):783-7. Epub 2007 Jul 5.

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