Erstellt am 21 Sep 2015 10:37
Zuletzt geändert: 26 Sep 2015 20:42
Mustergutachten - Auszug
Posttherapeutische Kehlkopf-Entzündung (Larynx-Chondritis oder Perichondritis)
Auf dem Boden einer vorangegangenen Radiochemotherapie im Kopf-/Halsbereich entstehen gehäuft Larynx- bzw. Kehlkopfödeme mit oder ohne Entzündung des knorpeligen Kehlkopfes (Chondritis oder Perichondritis). Diese therapeutisch ausgelöste Schädigung des Kehlkopfes führt in unterschiedlichem Maße zu Heiserkeit, Behinderung der Atmung und des Schluckens. In extremen Fällen kann eine Laryngektomie, d. h. eine komplette Entfernung des Kehlkopfes mit Verlagerung der Luftröhre nach außen zur Gewährleistung einer ausreichenden Atmungsfunktion erforderlich sein. Da bei diesem Eingriff der Kehlkopf entfernt wird, kann die Maßnahme nicht rückgängig gemacht werden. Menschen ohne Kehlkopf haben keine Stimmbänder mehr und können nur mit Hilfe einer Sprechkanüle oder eines Sprechaufsatzes oder einer Stimmprothese, welche zwischen Luftröhre und Speiseröhre eingesetzt wird, sprechen.
Es handelt sich somit bei einer Kehlkopfentfernung um eine sehr eingreifende Maßnahme, die zwar nicht zum vollständigen Verlust der Sprechfähigkeit, jedoch zu einer sehr deutlichen Beeinträchtigung führt, da die „Ersatzsprache“, die nach diesem Eingriff noch möglich ist, sich deutlich von dem natürlichen Sprachvermögen bei vorhandenem Kehlkopf unterscheidet.
Die sozialrechtliche Einschätzung, ob es sich bei einer Kehlkopfentfernung um eine Situation im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsbeschlusses vom 06.12.2005 handelt, welche wertungsmäßig einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung gleichzustellen wäre, obliegt nicht dem ärztlichen Gutachter und könnte letzten Endes nur durch die Gerichtsbarkeit geklärt werden.
Unter der Prämisse einer wertungsmäßig einer lebensbedrohlichen Situation gleichzustellenden Sachlage ist jedenfalls zu prüfen, ob die vertraglichen Methoden der Therapie als ausgeschöpft zu betrachten sind und ob die wissenschaftliche Literatur Indizien für eine Notwendigkeit der Anwendung der hyperbaren Sauerstofftherapie unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten liefert.
Sofern in einem Einzelfall eine Laryngektomie aus HNO-fachärztlicher Sicht die einzige Behandlungsoption darstellt, so impliziert diese HNO-fachärztliche Einschätzung bereits, dass vertragliche Alternativen zu dieser Therapie nicht existieren (Andernfalls wäre dieser Eingriff ärztlich-ethisch gar nicht zu verantworten!).
Es ist in diesem Fall daher nur die Frage zu untersuchen, ob die Laryngektomie durch einen individuellen Heilversuch ggf. abgewendet werden könnte. Hierzu ist gutachterlich zu überprüfen, ob nicht ganz fernliegende Hinweise auf eine mögliche, spürbare positive Beeinflussung des Krankheitsverlaufes durch die beantragte heilversuchende Maßnahme existieren, ob also die Hoffnung begründet ist, dass mithilfe der hyperbaren Sauerstofftherapie der Verlust des Kehlkopfs vom Patienten abgewendet werden kann.
Evidenz:
Eine Recherche nach Publikationen zum Thema „Hyperbare Sauerstofftherapie“ und „Osteonekrose“ in der weltgrößten Datenbank medizinischer Literaturzitate, der Medline, erbrachte nur wenige Publikationen, die seit Abschluss des Bewertungsverfahrens beim Gemein-samen Bundesausschuss publiziert wurden.
Eine Publikation aus dem Jahr 2004 stammt aus der Klinik für Pädiatrische Onkologie, - Hämatologie und - Immunologie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Bernbeck et al. 2004). Es handelt sich um eine Fall-Kontroll-Studie, in deren Rahmen 27 Patienten mit Knochenmarksödem oder Osteonekrose bei akuter lymphatischer Leukämie oder Non-Hodgkin-Lymphom behandelt wurden. Eine Gruppe erhielt hyperbare Sauerstofftherapie, die andere Gruppe bekam lediglich die Standardtherapie. Es zeigte sich, dass bei den mit hyperbarem Sauerstoff behandelten Jungen im Laufe der Studiendauer die Knochennekrosen-Anzahl weniger abnahm als unter Standardtherapie. Bei Mädchen, die älter als 10 Jahre waren, zeigte sich sowohl in der sauerstoffbehandelten als auch in der nicht behandelten Gruppe eine Zunahme aseptischer Knochennekrosen. Insgesamt konnte diese Studie keinen Nachweis erbringen, dass die Therapie mittels hyperbarem Sauerstoff bei Kindern über 10 Jahren einen günstigen Effekt auf Knochenmarksödeme oder aseptische Osteonekrosen hat. Die Studie ergab sogar Hinweise auf eine Verschlechterung der Ergebnisse unter hyperbarer Sauerstofftherapie.
2004 wurden auch die Ergebnisse einer randomisierten kontrollierten multizentrischen Studie mit 68 Patienten mit Kiefer-Osteonekrosen publiziert (Annane et al. 2004). Die Patienten erhielten entweder 30 bis 40 Druckkammerbehandlungen oder Placebo-Behandlungen mit einem Atmosphärendruck von 2,4 Atmosphären für jeweils 90 Minuten. Die Heilungsraten waren nicht signifikant verschieden – jedoch zeigte sich eine Tendenz für ein schlechteres Abschneiden der Patienten unter hyperbarer Sauerstofftherapie (Heilungsrate 19% unter HBO-Therapie versus 32% unter Placebo). Auch wenn es sich um eine vergleichsweise kleine Studie handelt und die Ergebnisse für eine mögliche Schadwirkung nicht statistisch signifikant waren, so wirft das Ergebnis dieser Studie doch ernsthafte Zweifel an der Sicherheit und Unbedenklichkeit der HBO-Therapie zur Behandlung von Osteonekrosen auf.
Eine unkontrollierte Fallserie aus dem Universitätsspital Zürich (Baltensperger) von 2004 berichtete über einen kombinierten Therapieansatz (Antibiose, Resektion, HBO-Therapie) bei Patienten mit Kieferosteomyelitis nach Bestrahlung. Lediglich bei 11 von 30 Patienten konnte eine Remission erzielt werden. Welchen Beitrag die HBO-Therapie zu den Remissionen hatte, ist aufgrund des Studiendesigns nicht zu ermitteln: Im Übrigen erklären die Autoren selbst, dass die Therapieergebnisse keineswegs überzeugend oder befriedigend waren. Sie plädieren daher für eine bessere Subklassifikation der von Kieferosteomyelitis betroffenen Patienten.
Eine Publikation einer Fallserie mit insgesamt 16 Patienten mit Kieferosteonekrosen aus dem Jahr 2007 (Freiberger et al. 2007) konnte keinen definitiven Vorteil einer HBO-Therapie nach-weisen, die effektivste therapeutische Intervention in dieser Studie war die Beendigung einer laufenden Bisphosphonattherapie.
Eine Studie aus der Klinik für Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie der Universität Düsseldorf (Handschel 2007) untersuchte eine unkontrollierte Fallserie von 27 Patienten mit Osteonekrosen im Kiefer. In dem wenig belastbaren methodischen Design (unkontrollierte, nicht sicher konsekutive Fallserie, Bildung von drei sehr kleinen Gruppen) ist der in dieser Studie gewählte Ergebnisparameter, klinische Schmerz- und Schwellungseinschätzung, problematisch. Mit einem kombinierten Therapieschema mittels chirurgischer Revision, Antibiose und HBO-Therapie wurde lediglich bei 11 der 27 Patienten ein Verschwinden der Symptome erzielt.
Eine weitere, im Jahr 2007 publizierte Studie (D'Souza) berichtet die Ergebnisse einer 8-jährigen Interventionsstudie mit 23 eingeschlossenen Patienten mit Osteoradionekrosen, die anhand klinischer und radiologischer Kriterien in drei verschiedene Schweregradgruppen eingeteilt wurden. Es handelt sich um eine kontrollierte Studie, eine Patientengruppe erhielt HBO-Therapie, die andere nicht. Am Ende der Studie waren 12,5 % der Patienten unter HBO-Therapie krankheitsfrei, in der Gruppe ohne HBO-Therapie waren es 86%. Die Studie ergab somit Hinweise auf eine mögliche Verschlechterung der Ergebnisse unter hyperbarer Sauerstofftherapie. Angesichts der kleinen Fallzahl empfehlen die Autoren der Studie weitere randomisierte klinische Studien mit größeren Fallzahlen.
Zusammenfassend sind die derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse nach wie vor nicht geeignet, um eine generelle Überlegenheit gegenüber konventionellen Therapien abzuleiten. Die wissenschaftlichen Daten belegen auch keinen generellen Nutzen der HBO-Therapie in der Behandlung radiogener Osteonekrosen.
Experten-Empfehlungen:
Ergänzend zur Literaturrecherche wurden auch die Empfehlungen der großen Gesellschaften aus dem Bereich der hyperbaren Sauerstofftherapie konsultiert.
Die nordamerikanische „Undersea and Hyperbaric Medical Society“ (UHMS) führt die Osteoradionekrose in ihren Indikationsempfehlungen für die hyperbare Sauerstofftherapie auf, ohne konkrete Angaben zur Wirksamkeit zu machen.
Die Europäische Gesellschaft für hyperbare Medizin (European Committee for Hyperbaric Medicine [ECHM]) führt in ihren Empfehlungen aus dem Jahr 2004 Osteonekrosen nicht direkt auf, es werden jedoch generell strahlenbedingte Schädigungen als mögliche Indikation angegeben.
Durch die - nicht evidenzbasierten - Empfehlungen der großen internationalen Gesellschaften für hyperbare Medizin wird die Indikation einer hyperbaren Sauerstofftherapie bei radiogener Osteonekrose schwach gestützt.
Zusammenfassend erlaubt der aktuelle Kenntnisstand - insbesondere im Hinblick auf eine generell unzureichende Studienlage - keine abschließende Bewertung der Methode und ihrer Erfolgsaussichten. Die Möglichkeit einer spürbaren positiven Einwirkung auf den Krankheitsverlauf bei sonst alternativlos durchzuführender Tracheostomie mit Laryngektomie ist jedoch anhand der vorhandenen Datengrundlage, insbesondere unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Experten-Empfehlungen, auch nicht auszuschließen.
Die Wirksamkeitsvermutung hinsichtlich der beantragten Therapie würde allerdings keine unbegrenzte Zahl von Behandlungseinheiten rechtfertigen, diese wären gemäß Expertenmeinungen in der Literatur zunächst auf eine 20tägige Behandlung zu begrenzen. Danach sollte eine Evaluation des Therapie-Erfolges der Entscheidung über weitere Behandlungen zugrundegelegt werden.
Literatur:
Annane D, Depondt J, Aubert P, et al. Hyperbaric oxygen therapy for radionecrosis of the jaw: a randomized, placebo-controlled, double-blind trial from the ORN96 study group. J Clin Oncol 2004; 22:4893.
Bedogni A, Blandamura S, Lokmic Z, Palumbo C, Ragazzo M, Ferrari F, Tregnaghi A, Pietro-grande F, Procopio O, Saia G, Ferretti M, Bedogni G, Chiarini L, Ferronato G, Ninfo V, Lo Russo L, Lo Muzio L, Nocini PF. Bisphosphonate-associated jawbone osteonecrosis: a correlation between imaging techniques and histopathology. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod. 2008 Mar;105(3):358-64.
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D'Souza J, Goru J, Goru S, Brown J, Vaughan ED, Rogers SN. The influence of hyperbaric oxygen on the outcome of patients treated for osteoradionecrosis: 8 year study. Int J Oral Max-illofac Surg. 2007 Sep;36(9):783-7. Epub 2007 Jul 5.
Freiberger JJ, Padilla-Burgos R, Chhoeu AH, Kraft KH, Boneta O, Moon RE, Piantadosi CA. Hyperbaric oxygen treatment and bisphosphonate-induced osteonecrosis of the jaw: A case series. J Oral Maxillofac Surg. 2007 Jul;65(7):1321-7.
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