Adipositas: Bariatrische Chirurgie

Erstellt am 11 Oct 2021 16:35
Zuletzt geändert: 05 Dec 2022 15:44

Sozialrechtliches

Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 22.06.2022 (B 1 KR 19/21 R) klargestellt, dass eine bariatrische Operation (Magenverkleinerung) kostenübernahmefähig ist, wenn diese medizinisch notwendig und erforderlich ist:

Laut dieser Entscheidung ist es nicht zwingend erforderlich, dass vor einer Magenverkleinerungsoperation alle anderen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden.
Erforderlich ist eine Magenverkleinerung laut den Richtern des BSG dann, wenn die voraussichtlichen Ergebnisse der Operation am gesunden Organ gegenüber den zu erwartenden Resultaten anderer Behandlungsmöglichkeiten (z.B. einer konservativen Therapie zur Behandlung der Fettleibigkeit) überlegen ist. Bei der Prüfung, ob eine konservative Behandlungsmethode als echte Alternative in Betracht kommt, gilt es die voraussichtliche Dauer bis zu einem spürbaren Erfolg, das Ausmaß der Folge- und Begleiterkrankungen der Adipositas und die hierdurch bedingte Dringlichkeit der Gewichtsreduktion zu berücksichtigen.
Zusätzlich hat das BSG in dem Terminbericht zu der Entscheidung geäußert:
Das allgemeine Qualitätsgebot fordert, dass nach dem gesicherten Stand der medizinischen Erkenntnisse, also der bestverfügbaren Evidenz, in medizinischen Fachkreisen Konsens über die Wirksamkeit und Zweckmäßigkeit der bariatrischen Operation besteht…
Im Urteilstext heißt es u.a.:
Der Anspruch auf Krankenbehandlung hat sich generell daran auszurichten, welche Behandlung unter Beachtung des Qualitätsgebotes und des umfassenden Grundsatzes der Wirtschaftlichkeit notwendig und ausreichend ist, um das angestrebte Behandlungsziel zu erreichen (§ 27 Abs 1 Satz 1 SGB V iVm § 2 Abs 1 Satz 3, Abs 4, § 12 Abs 1 SGB V). Vorrangig sind die auch für die stationäre Behandlung geltenden Vorgaben des allgemeinen Qualitätsgebotes (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V; näher dazu BSG vom 13.12.2005 - B 1 KR 21/04 R …; BSG vom 16.8.2021 - B 1 KR 18/20 R …). Im Falle einer - wie hier - nach dem 22.7.2015 erfolgten stationären Behandlung entspricht auch das abgesenkte Qualitätsgebot, der Potentialmaßstab, den Anforderungen der erforderlichen Behandlung unter den vom Senat nunmehr in ständiger Rechtsprechung angewandten Voraussetzungen (näher dazu BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 25/20 R…).
Hierzu Interview Interview mit Prof. Stefan Huster | Umdenken bei Adipositas-Behandlung auf den Seiten des BVMED.

Zur Leistungspflicht der Krankenkassen für eine Adipositaschirurgie enthielt das Urteil des Bundessozialgerichts B 1 KR 1/02 R vom 19.02.2003 folgende Aussage:

Die Leistungspflicht der Krankenversicherung für eine chirurgische Therapie [der Adipositas] kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten […] und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Es trifft zwar zu, dass die operative Verkleinerung des Magens keine kausale Behandlung darstellt, sondern die Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflussen soll. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich mit umfasst, wenn sie ansonsten die in § 2 Abs 1 Satz 3 und § 12 Abs 1 SGB V aufgestellten Anforderungen erfüllt, also ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist sowie dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Für chirurgische Eingriffe hat der Senat diesen Grundsatz allerdings eingeschränkt: Wird durch eine solche Operation in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert, wie das bei der Applikation eines Magenbandes geschieht, bedarf die mittelbare Behandlung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind.

Das Urteil des Bundessozialgerichts B 1 KR 1/02 R vom 19.02.2003 führte weiter aus:

Da das Behandlungsziel einer Gewichtsreduktion auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, ist zunächst zu prüfen, ob eine vollstationäre chirurgische Behandlung unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätetische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist (§ 12 Abs 1, § 39 Abs 1 Satz 2 SGB V). Sodann muss untersucht werden, ob nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine chirurgische Intervention gegeben sind. Nach den vorliegenden Leitlinien der Fachgesellschaften und den einschlägigen Literaturbeiträgen kommt die Implantation eines Magenbandes nur als Ultima Ratio und nur bei Patienten in Betracht, die eine Reihe von Bedingungen für eine erfolgreiche Behandlung erfüllen (BMI ³ 40 oder ³ 35 mit erheblichen Begleiterkrankungen; Erschöpfung konservativer Behandlungsmöglichkeiten; tolerables Operationsrisiko; ausreichende Motivation, keine manifeste psychiatrische Erkrankung; Möglichkeit einer lebenslangen medizinischen Nachbetreuung ua). …

Interessanterweise hat das Bundessozialgericht allerdings im Urteil B 6 KA 50/11 R vom 12.12.2012 entschieden, dass ein Ausschluss von Medikamenten, die überwiegend zur Behandlung der erektilen Dysfunktion, der Anreizung sowie Steigerung der sexuellen Potenz, zur Raucherentwöhnung, zur Abmagerung oder zur Zügelung des Appetits, zur Regulierung des Körpergewichts oder zur Verbesserung des Haarwuchses dienen, nach § 34 Abs. 1 Satz 6 - 8 SGB V (Arzneimittel, bei deren Anwendung eine erhöhte Lebensqualität im Vordergrund steht) - da so im Gesetz geregelt - grundsätzlich und unabhängig von der Arzneimittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses Bestand habe. Auch wenn der Gemeinsame Bundesausschuss zu den Bestimmungen in § 34 SGB V noch nähere Regelungen in der Arzneimittelrichtlinie fassen könne, so könnten im Gesetz benannte Ausschlüsse - so das BSG in dem Urteil vom 12.12.2012 - durch den G-BA bzw. die Arzneimittelrichtlinie nicht ausgehebelt werden.

Siehe auch Beitrag "Rimonabant (Acomplia®)" in diesem Wiki.

Begutachtungshilfen der MDK/MDS-Gemeinschaft:

Diskussion der MDK/MDS-Begutachtungshilfen und -Positionen

Rahmen - Zertifizierte Zentren

Zertifizierte Zentren der CAADIP für Adipositas- und metabolische Chirurgie
Zertifizierungssystem der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV)
Chirurgische Arbeitsgemeinschaft Adipositastherapie und metabolische Chirurgie (CAADIP)

Kosten-Nutzen, Gesundheitsökonomie

  • Louwagie P, Neyt M, Dossche D, Camberlin C, Ten Geuzendam B, Van den Heede K, Van Brabandt H. Bariatric surgery: an HTA report on the efficacy, safety and cost-effectiveness. Belgian Health Care Knowledge Centre (KCE). KCE Reports 316 (2019). Available online at: https://kce.fgov.be/report/316

Evidenz zur Einschätzung bariatrischer Operationen:

Die S3-Leitlinie zur Adipositaschirurgie mit Stand 2018 (gültig bis 31.12.2022) enthält folgende Evidenz-Zusammenfassung:

"Kontrollierte Studien mit bis zu 15 Jahren Dauer zeigen, dass nach einem operativen Eingriff die Gewichtsziele im Mittel erreicht werden (Dixon et al. 2012; Sjöström et al. 2012). Eine Metaanalyse mit 25 randomisierten Studien kam zu dem Ergebnis, dass nach einem, zwei und drei Jahren eine chirurgische Intervention das Gewicht um 17,7 kg, 28,0 kg und 17,8 kg ausgeprägter senkt als eine Ernährungsumstellung und/oder vermehrte Bewegung.
Patienten mit einem BMI >35 kg/m² nahmen im Mittel 26,2 kg ab, Patienten mit einem BMI zwischen 30 und 35 kg/m² 15,0 kg (Cheng et al. 2016)."

Neben der guten Wirksamkeit der bariatrischen Chirurgie belegt die wissenschaftliche Datenlage (Evidenz) eine, im Vergleich zur bariatrischen Chirurgie, sehr geringe Wirksamkeit der unterschiedlichen konservativen Therapieprogramme.

Vom Bereich "Evidenzbasierte Medizin" des MDS war mit Stand vom März 2017 eine Evidenzbewertung zum Vergleich der Bariatrischen Chirurgie mit der konservativen Adipositastherapie erarbeitet worden. Wesentliche Ergebnisse dieses Gutachten waren zum Teil sehr große Effekte zugunsten der bariatrischen Chirurgie für kurzfristige bis mittelfristige Nachbeobachtungszeiten.

Das Swiss Medical Board hat 2016 eine wissenschaftliche fundierte Gegenüberstellung der bariatrischen Chirurgie mit den nicht-operative Behandlungsmethoden bei Adipositas und Übergewicht publiziert.

Evidenz aus Literatur

In einer bevölkerungsbasierten kanadischen Studie war die Fünf-Jahres-Gesamtmortalitätsrate von über 13.000 Personen, die sich einer bariatrischen Operation unterzogen hatten, niedriger als die von gleichaltrigen adipösen Personen (1,4 versus 2,5 Prozent).
In der Studie war die bariatrische Chirurgie mit kardiovaskulären und krebsbedingten Sterblichkeitsraten assoziiert, die 30 bis 50 Prozent niedriger waren als die der nicht-chirurgischen Behandlung.

In dieser Studie wurden die Teilnehmer der schwedischen Adipositas-Studie und eine Zufallsstichprobe der Allgemeinbevölkerung über 20 Jahre lang verfolgt. Die bereinigte mittlere Lebenserwartung der adipösen Personen, die sich einer bariatrischen Operation unterzogen, war um 3 Jahre verlängert gegenüber denjenigen Personen, die eine übliche Adipositasbehandlung erhielten, aber 5,5 Jahre kürzer als die mittlere Lebenserwartung der Allgemeinbevölkerung.
In der Studie war die bariatrische Chirurgie mit kardiovaskulären und krebsbedingten Sterblichkeitsraten assoziiert, die 30 bis 50 Prozent niedriger waren als die der nicht-chirurgischen Behandlung.

Die Abdominoplastik war in dieser Studie mit einer reduzierten sekundären Gewichtszunahme nach RYGB assoziiert. Ob dies durch erhöhte körperliche Zufriedenheit und bessere körperliche Funktion oder eine biologische Reaktion auf die Reduktion des Fettgewebes verursacht wird, bleibt unklar. Wenn die Entfernung von abdominalem subkutanem Fettgewebe eine sekundäre Gewichtszunahme verhindert und die Robustheit der bariatrischen Chirurgie erhöht, sollte dies als Teil der Standardbehandlung nach bariatrischer Chirurgie angeboten werden.

  • Colquitt JL, Pickett K, Loveman E, Frampton GK. Surgery for weight loss in adults. Cochrane Database Syst Rev. 2014 Aug 8;(8):CD003641. doi: 10.1002/14651858.CD003641.pub4. PMID: 25105982.

Schlussfolgerungen der Autoren: Chirurgische Eingriffe führen im Vergleich zu nicht-chirurgischen Eingriffen zu größeren Verbesserungen bei der Gewichtsabnahme und den gewichtsassoziierten Komorbiditäten, unabhängig von der Art der verwendeten Verfahren. Im Vergleich miteinander führten bestimmte Verfahren zu einer größeren Gewichtsabnahme und Verbesserungen bei Komorbiditäten als andere. Die Ergebnisse waren ähnlich zwischen RYGB und Sleeve-Gastrektomie, und beide Verfahren hatten bessere Ergebnisse als das verstellbare Magenband. Bei Personen mit sehr hohem BMI führte die biliopankreatische Diversion mit duodenalem Switch zu einem größeren Gewichtsverlust als RYGB. Der duodenojejunale Bypass mit Sleeve-Gastrektomie und die laparoskopische RYGB hatten ähnliche Ergebnisse, allerdings basiert dies auf einer kleinen Studie. Die isolierte Sleeve-Gastrektomie führte nach drei Jahren Nachbeobachtung zu besseren Ergebnissen bei der Gewichtsabnahme als das verstellbare Magenband. Dies basierte auf nur einer Studie. Die gewichtsbezogenen Ergebnisse waren zwischen laparoskopischer Magenimbrikation und laparoskopischer Sleeve-Gastrektomie in einer Studie ähnlich. Über alle Studien hinweg waren die Raten unerwünschter Ereignisse und die Reoperationsraten im Allgemeinen schlecht berichtet. Die meisten Studien beobachteten die Teilnehmer nur ein oder zwei Jahre lang, daher bleiben die Langzeiteffekte der Operation unklar.

  • Runkel N, Colombo-Benkmann M, Hüttl TP, Tigges H, Mann O, Flade-Kuthe R, Shang E, Susewind M, Wolff S, Wunder R, Wirth A, Winckler K, Weimann A, de Zwaan M, Sauerland S. Evidence-based German guidelines for surgery for obesity. Int J Colorectal Dis. 2011 Apr;26(4):397-404. doi: 10.1007/s00384-011-1136-5. Epub 2011 Feb 12. PMID: 21318299.
  • Runkel N, Colombo-Benkmann M, Hüttl TP, Tigges H, Mann O, Sauerland S. Chirurgie der Adipositas (Bariatric surgery.) Dtsch Arztebl Int. 2011 May;108(20):341-6. doi: 10.3238/arztebl.2011.0341. Epub 2011 May 20. PMID: 21655459; PMCID: PMC3109275. (Ärzteblatt Volltext)

Dumping-Syndrom

Scarpellini E, Arts J, Karamanolis G, Laurenius A, Siquini W, Suzuki H, Ukleja A, Van Beek A, Vanuytsel T, Bor S, Ceppa E, Di Lorenzo C, Emous M, Hammer H, Hellström P, Laville M, Lundell L, Masclee A, Ritz P, Tack J. International consensus on the diagnosis and management of dumping syndrome. Nat Rev Endocrinol. 2020 Aug;16(8):448-466. doi: 10.1038/s41574-020-0357-5. Epub 2020 May 26. PMID: 32457534; PMCID: PMC7351708.

Hier Übersetzung des Abstrakts durch Deepl:
Das Dumping-Syndrom ist eine häufige, aber unterdiagnostizierte Komplikation der Magen- und Ösophagus-Chirurgie. Wir initiierten einen Delphi-Konsensprozess mit internationalen multidisziplinären Experten. Wir definierten den Umfang, schlugen Aussagen vor und durchsuchten elektronische Datenbanken, um die Literatur zu sichten. Achtzehn Experten nahmen an der Literaturzusammenfassung und dem Abstimmungsprozess teil und bewerteten 62 Aussagen. Wir bewerteten die Qualität der Evidenz anhand der GRADE-Kriterien (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation). Ein Konsens (definiert als >80% Übereinstimmung) wurde für 33 von 62 Aussagen erreicht, einschließlich der Definition und des Symptomprofils des Dumping-Syndroms und seiner Auswirkungen auf die Lebensqualität. Das Gremium war sich einig über die pathophysiologische Relevanz der schnellen Passage von Nährstoffen zum Dünndarm, über die Rolle der verminderten Magenvolumenkapazität und die Freisetzung von Glucagon-like Peptide 1. Die Erkennung von Symptomen ist entscheidend, und der modifizierte orale Glukosetoleranztest, nicht aber der Magenentleerungstest, ist für die Diagnose nützlich. Ein Anstieg des Hämatokrits >3 % oder der Pulsfrequenz >10 bpm 30 min nach Beginn der Glukoseaufnahme sind diagnostisch für ein frühes Dumping-Syndrom, und ein Nadir-Hypoglykämie-Spiegel <50 mg/dl ist diagnostisch für ein spätes Dumping-Syndrom. Eine Diätanpassung ist der vereinbarte erste Behandlungsschritt; Acarbose ist bei Symptomen des späten Dumping-Syndroms wirksam und Somatostatin-Analoga werden bei Patienten bevorzugt, die nicht auf Diätanpassungen und Acarbose ansprechen.

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Postprandiale Hypoklykämie

Literatur zu sonstigen gesundheitlichen Folgen der Adipositaschirurgie

Siehe auch in diesem Wiki

Textbaustein Adipositas-Fragebogen
Textbaustein Adipositaschirurgie
Textbaustein Sozialmedizinische Voraussetzungen Adipositaschirurgie
Textbaustein Primäre Adipositaschirurgie
Textbaustein Adipositaschirurgie - Kontraindikationen


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