Erstellt am 16 Sep 2015 21:52
Zuletzt geändert: 28 Apr 2016 08:31
Im seltenen Fällen kommt es im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft zu einer ausgeprägten Entkalkung der Knochen (schwangerschaftsassoziierte Osteoporose), die häufig auch zu Frakturen führt. Die Osteoporose ist eine typische und häufige Krankheit des höheren Lebensalters. Die schwangerschaftsassoziierten Osteoporose ist demgegenüber sehr selten. Exakte Zahlen zur Häufigkeit liegen nicht vor, in der Literatur kursieren Angaben, wonach die Problematik bei einer von 250.000 Frauen auftreten soll.
Anhand der vorhandenen Zahlenangaben stellt sich die Frage, ob es sich um eine „singuläre“ Erkrankung handelt.
Eine eindeutige Antwort auf diese Frage ist allerdings kaum möglich, da es keine einheitliche Definition der Begriffe „seltene Erkrankung“ oder „singuläre Erkrankung“ gibt.
Der Begriff der „singulären Erkrankung“ wird in der Regel zurückgeführt auf das BSG-Urteil zur Behandlung des Aderhaut-Koloboms vom 19.10.2004 (B 1 KR 27/02 R). In diesem Urteil finden sich singuläre Erkrankungen definiert als „einzigartige[n n] Erkrankungen, die weltweit nur extrem selten auftreten und die deshalb im nationalen wie im internationalen Rahmen weder systematisch erforscht noch systematisch behandelt werden können“.
Die schwangerschaftsassoziierte Osteoporose ist deutlich seltener als viele Krankheiten, die in die europäische Liste der „seltenen Krankheiten“ oder „Orphan diseases“ aufgenommen wurden. Aus den verfügbaren Zahlen errechnet sich für Deutschland eine Prävalenz von 0,000 016 oder 16 betroffene Frauen je eine Million Frauen. Dies liegt deutlich unter dem niedrigsten Grenzwert für die Definition einer „ultra-seltenen“ Erkrankung in Großbritannien („ultra orphan disease“).
Das Deutsche Referenzzentrum für schwangerschaftsassoziierte Osteoporose berichtet auf seiner Internetseite, dass seit Bestehen dieses Zentrums im Verlauf von nunmehr fast acht Jahren Daten von fast 200 Patientinnen gesammelt werden konnten. Auf der Grundlage dieser Zahl und der sonstigen Angaben in der Literatur lässt sich abschätzen, dass in ganz Deutschland innerhalb eines Jahres mit zwei bis maximal 25 schwangerschaftsassoziierten Osteoporose-Fällen zu rechnen ist.
Dennoch handelt es sich nicht um eine Erkrankung, die „im nationalen wie im internationalen Rahmen nicht systematisch erforscht [… …] werden“ kann.
Tatsächlich sind der nationalen und internationalen medizinischen Literatur Forschungsarbeiten zu der Problematik der schwangerschaftsassoziierten Osteoporose zu entnehmen. Forschung zur schwangerschaftsassoziierten Osteoporose findet also statt. In Deutschland bemüht sich seit 2005 das Deutsche Referenzzentrum für schwangerschaftsassoziierte Osteoporose um die Erforschung der schwangerschaftsassoziierten Osteoporose.
Wissenschaftliche Daten über die beste Behandlung dieser Patientengruppe auf einem ausreichenden methodischen Niveau für die wissenschaftliche, statistisch abgesicherte Methodenbewertung liegen derzeit nicht vor. Es ist auch nicht absehbar, wann solche verfügbar sein werden, da die pro Jahr zu erwartenden extrem niedrigen Fallzahlen eine randomisierte kontrollierte Studie, die sich auf Deutschland oder einen anderen einzelnen Staat beschränkt, unmöglich machen.
Von dem Deutschen Referenzzentrum für schwangerschaftsassoziierte Osteoporose wurde bislang ein Einzelfallbericht zum Verlauf und zur Therapie mit Teriparatid publiziert1. Auch in anderen Ländern wird das Krankheitsbild beforscht; auch die dortigen Bemühungen führten bislang zur Publikation von Einzelfallberichten zur Therapie der schwangerschaftsassoziierten Osteoporose, z.B. mit Teriparatid2,3.
In der weltgrößten Datenbank medizinischer Fachliteratur, der Medline, konnten auch Einzelfallberichte zur Therapie mit Bisphosphonaten4 und Strontiumranelat5 identifiziert werden. Bezüglich dieser Substanzen fand sich aber auch eine negative Einschätzung in einer aktuellen Leitlinie zur Therapie der Kortikoid-induzierten Osteoporose6; die Leitlinienautoren sprechen insbesondere eine eindeutige negative Empfehlung, gegen den Einsatz von Bisphosphonaten bei Frauen mit nicht abgeschlossener Familienplanung aus7.
In der Medline konnte noch ein weiterer Einzelfallbericht über den Verlauf bei einer schwangerschaftsassoziierten Osteoporose identifiziert werden8. In dem zugrundeliegenden Einzelfall wurde die Therapie hauptsächlich mit dem Vitamin-D-Derivat Alfacalcidol durchgeführt.
Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass zur Zeit wie auch in naher Zukunft keine mit hohem Evidenzgrad begründete Empfehlung für die Therapie bei schwangerschaftsassoziierter Osteoporose möglich ist. Eine „systematische“ Behandlung im Sinne der Definition in dem BSG-Urteil vom 19.10.2004 (B 1 KR 27/02 R), auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse mit ausreichendem Validierungsgrad, existiert somit trotz stattfindender Forschung derzeit nicht.
Grundsätzlich kann es sich nach der Literatur – und auch im Einzelfall – um ein schweres bis sehr schweres Krankheitsbild handeln. Die Suche in der Medline führte auch zu einer Publikation einer Einzelfallbeobachtung einer betroffenen Frau, die nicht spezifisch behandelt wurde und im Verlauf der Erkrankung operativ zur Stabilisierung der Wirbelsäule versorgt werden musste (Kyphoplastie)9. Eine weitere Publikation eines Einzelfalls berichtete über einen sehr schweren und langwierigen Verlauf mit acht Wirbelkörperfrakturen10.
Auch wenn es eine erkennbare Forschungstätigkeit in Bezug auf die Erkrankung gibt, ist aufgrund des Fehlens wissenschaftlich begründeter anerkannter Therapieansätze in der vorliegenden Situation durchaus die Frage zu diskutieren, ob hier nicht die entsprechenden Grundsätze der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sowie auch des Bundesverfassungsgerichts zu seltenen Erkrankungen heranzuziehen wären. So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19.3.2004 (1 BvR 131/04; Immunadsorption bei Myasthenia gravis) ausgeführt, dass auch der Gemeinsame Bundesausschuss „die zu fordernden Wirksamkeitsnachweise in Anbetracht dessen, dass es sich hier um eine sehr seltene Krankheit handeln könnte“ hinsichtlich der geforderten Evidenzgrade anpassen müsse.
Inwieweit sich unter Berücksichtigung der dargelegten Aspekte ein Leistungsanspruch von Versicherten mit dieser Erkrankung gegenüber der Krankenkasse auf der Grundlage eines verfassungsrechtlich erweiterten Leistungsanspruches ergeben könnte, obliegt nicht der Beurteilung des MDK.
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* Zitat nach: Bach, Otto: ''Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren''. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2, (Zitat: Seite 1)
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