Post-Covid: Sozialrecht

Erstellt am 02 Mar 2023 23:37
Zuletzt geändert: 04 Mar 2023 17:31

  • Meisterernst Düsing Manstetten, Partnerschaft von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten mbB:

Versicherungsrecht: Psychische Erkrankungen, schwer objektivierbare Beschwerden und Berufsunfähigkeit:

… Um den Berufsunfähigkeitsfall auszulösen, müssen psychische Leiden durch ärztliches Gutachten als Krankheit nachweisbar sein. … Gemütsschwankungen, psychische Erschöpfungszustände oder zeitweilige, depressive Schübe können, müssen sich aber nicht unbedingt als Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne darstellen. Angesichts der komplexen und schwer fassbaren Krankheitsbilder sind die Grenzen fließend und stellen Versicherungsnehmer und deren Anwälte vor erhebliche Darlegungs- und Beweisprobleme.
Bei dem chronischen Erschöpfungssyndrom tritt über Monate bis Jahre hinweg eine andauernde, beträchtliche Leistungsminderung durch geistige und körperliche Erschöpfung mit Seh-, Denk- oder Konzentrationsstörungen, Hals-, Muskel-, Kopf- oder Gelenkschmerzen ein, die dem Erkrankten kaum Erholung gönnt. Die Erkrankung dauert meist mehrere Jahre und endet selten durch Spontanheilungen. Die Symptome sind ähnlich wie bei der Fibromyalgie.
Die Weltgesundheitsorganisation ordnet das chronische Erschöpfungssyndrom als neurologische Erkrankung (G93.3 ICD-10 Code) ein. Damit handelt es sich also um eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Eine Vielzahl von Schulmeinungen stellen jedoch weiterhin in Frage, ob das chronische Erschöpfungssyndrom überhaupt eine organische Krankheit sei bzw. ein seelisches Leiden darstelle.

Eine der häufigsten Differentialdiagnosen (alternative Diagnose) für das CFS ist der Antriebsverlust bei einer Depression. Die Krankheit ist weiterhin von einer somatoformen Störung nach ICD 10 (2018) F 45.0 der WHO zu unterscheiden. Die Diagnose einer somatoformen Störung (somatisch = körperlich) erfordert, dass die Symptome durch organische Ursachen nicht vollständig erklärt werden können. Folglich darf das CFS, welches die WHO als neurologische Erkrankung nach ICD 10 G 93.3 klassifiziert, nicht als somatoforme Störung eingeordnet werden.
Schon das Chronic Fatigue-Syndrom kann zu einer dauerhaften, vollständigen Erwerbsunfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und damit zu einem Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung führen. Stellt ein qualifizierter Gutachter fest, dass kein Chronic Fatigue-Syndrom vorliegt, sondern eine Somatisierungsstörung mit Depression, so kann aufgrund der Folgen dieser Erkrankungen, insbesondere schwerer Erschöpfungszustände, der Anspruch auf die Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehen.

Das chronische Erschöpfungssyndrom oder chronische Müdigkeitssyndrom (englisch: chronic fatigue syndrome, abgekürzt CFS), auch Myalgische Enzephalomyelitis (ME), ist eine erworbene organische, pathophysiologische Erkrankung. Der Körper erkrankter Menschen produziert nicht genügend Energie. Es handelt sich um eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung (ICD 10 G 93.3). Zusätzlich besteht eine ausgeprägte Belastungsintoleranz, d.h. es kommt nach Anstrengung zu einer länger anhaltenden Zunahme der Beschwerden (sog. Postexertional Malaise oder S.E.I.D. = Systemic Exertion Intolerance Disease).
Die Mitgliedsstaaten der WHO sind verpflichtet, sich an die Bestimmungen der ICD der WHO zu halten und deren Klassifikation zu verwenden. Es ist unzulässig, eine und dieselbe Krankheit unter mehr als eine Rubrik einzuordnen. Folglich darf das CFS, welches durch die WHO als neuroimmunologische Erkrankung (ICD 10 G 93.3) klassifiziert ist, nicht in die Kategorie der psychischen Krankheit oder in die Kategorie Unwohlsein / Ermüdung ICD R 53 eingeordnet werden.
Gleichwohl legen mir Mandanten behördliche Bescheide vor, in denen ärztlich diagnostizierte CFS Erkrankungen nicht als solche anerkannt werden. Der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft wird ganz offensichtlich nicht berücksichtigt. Ein Großteil der an CFS Erkrankten erhält durch Ärzte und Behörden eine falsche Diagnose. Auf die im Internet abrufbaren Artikel des Charité Fatigue Centrums sei verwiesen. Richter gehen zudem davon aus, dass die Erkrankung (trotz ärztlicher Diagnose) nicht bewiesen sei.

Urteile

In diesem Urteil vertrat das LSG folgende Ansicht:
Entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin kommt es für die Beurteilung des rentenrechtlich relevanten Leistungsvermögens der Klägerin weder auf die Diagnoseerstellung als solche an noch auf die Klassifizierung nach ICD-10. Ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Erwerbsminderungsrente hängt nicht davon ab, ob der Diagnoseschlüssel F48.0 (Neurasthenie) oder G93.3 (chronisches Müdigkeitssyndrom) für die Erkrankung der Klägerin zutreffend ist oder nicht.
Es kommt auch nicht darauf an, ob abstrakt ein bestimmter Prozentsatz von Patienten vermeintlich unter den gleichen Symptomen leidet wie die Klägerin oder wie hoch dieser Prozentsatz ist oder ob nach neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Studien neue Wirkungszusammenhänge gesehen werden und ob sich hierzu in der medizinischen Fachliteratur bereits mehrheitliche Ansichten gebildet haben.
Entscheidend ist vielmehr, ob unter Berücksichtigung der üblichen Anforderungen der Tätigkeiten auf auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ein Versicherter trotz vorliegender Erkrankungen noch mindestens 6 Stunden täglich tätig sein kann, wenn auch unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen.
Ob ein derartiges Leistungsvermögen beim Versicherten noch besteht oder nicht, ist nicht anhand der subjektiven Überzeugung des Versicherten festzustellen, sondern durch ärztliche Sachverständige, die die objektiv vorliegenden, aus den gesundheitlichen Erkrankungen folgenden Funktionseinschränkungen für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes festzustellen und subjektive Angaben und Überzeugungen des Versicherten in diesen objektiv festzustellenden Rahmen einzuordnen haben. Anhaltspunkte dafür, dass die tätig gewordenen Sachverständigen dieser Aufgabe nicht gerecht geworden sein könnten, bestehen für den Senat nicht.
Anzumerken ist zu dem damals vom LSG München verhandelten Fall, dass die Rentenantragstellerin offenbar relativ durchgängig eine rentenversicherungs-relevante Tätigkeit in der ambulanten häuslichen Pflege ihrer Eltern ausgeübt hatte. Dies wurde vom LSG als letztlich unvereinbar mit den angegeben Symptomen und dem geschilderten Störungsbild eines schweren Erschöpfungssyndroms eingestuft.
Eine Revision war damals übrigens nicht zugelassen worden, eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision wurde vom BSG mit Entscheidung vom 15.07.2019 - B 13 R 3/18 B abgelehnt.

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* Zitat nach: Bach, Otto: ''Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren''. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2, (Zitat: Seite 1)

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