Erstellt am 06 Sep 2018 15:08 - Zuletzt geändert: 15 Mar 2023 17:12
Notwendigkeit und Rechtfertigung
Beispiel
2013 wurde auf einer Tagung in Hannover (Robert-Koch-Tagung") das Manual einer Arbeitsgruppe "Qualitätssicherung Gutachten im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst" für die Begutachtung von Frühförderungsmaßnahmen vorgestellt.
Diesem Manual wurden folgende Fragen vorangestellt:
Reichen nicht die Kenntnis
- der gesetzlichen Grundlagen,
- die Feststellung einer Behinderung sowie
- Art und Dauer der Maßnahme
zur Erstellung eines Gutachtens aus?
Von der genannten Arbeitsgruppe wurden folgende konkrete Gründe für die Notwendigkeit eines umfangreichen Manuals vorgetragen:
Die Kenntnis der genannten Faktoren reicht nicht, weil…
- nicht nur die Vorgabe bestimmter Stichworte reicht. Es muss erläutert werden, warum die jeweiligen Punkte wichtig sind und welche erläuternden Inhalte wo erforderlich sind.
- gutachterliche Stellungnahmen sind für verschiedene Adressaten bestimmt:
- Das Manual ist primär für die begutachtenden Kolleginnen und die Auftraggeber gemacht,
- die Gutachten sollen aber auch für die Frühförderinnen und die Eltern wichtige Anteile beinhalten.
- Es in den Kommunen sehr unterschiedliche Vorgehensweisen gibt.
Die genannten Punkte lassen sich auf die verschiedenen sozialmedizinische Begutachtungsfelder und die unterschiedlichen Formen sozialmedizinischer Gutachten übertragen:
Begutachtungsleitfäden, -Anleitungen und -Leitlinien könn(t)en in der Sozialmedizin
- Kenntnisse des formal sozialrechtlichen Hintergrunds zu der jeweiligen Thematik vermitteln.
- Kenntnisse über die Regelleistungs-Angebote der GKV im jeweiligen Themenbereich vermitteln.
- Hilfestellung bei der Ermittlung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes geben.
- Eine allgemeine Begutachtungs-Struktur als praktische Erstellungshilfe sowie als Orientierungshilfe für Leser aufzeigen.
- Kenntnisse über Begutachtungs-Hilfsmittel wie Scores, Klassifikationen, Symptombeschreibungen etc. zur Objektivierung gesundheitlicher Sachverhalte bereitstellen, um z.B. das Ausmaß oder den Schweregrad einer gesundheitlichen Beeinträchtigung näherungsweise beschreiben zu können (und ggf. auch Vergleiche oder Klassifizierungen bestimmter Krankheitsbilder oder deren unterschiedlicher Ausprägungen zu ermöglichen).
- Medizinische Informationen zur Einschätzung der medizinischen Prognose bei bestimmten Erkrankungen / Fragestellungen für themenspezifische Begutachtung zur Verfügung stellen.
- Spezifisch sozialmedizinische Informationen zu den relevanten sozialen Auswirkungen von Gesundheitsstörungen hinsichtlich der Lebensgestaltung, Teilhabe und Erwerbsfähigkeit der Betroffenen bereitstellen, ggf. auch fokussierte Zusammenstellungen von ICF-Kriterien.
- Die Relevanz medizinischer Details (Wertigkeit von Laborwerten, Bildbefunden oder den Ergebnissen verschiedener Test-Verfahren, sonstige Körpermeßwerte usw.) im Rahmen der jeweils begutachteten Sachverhalte einordnen (insbesondere bei themenspezifischen Begutachtungshilfen; wie z. B. Adipositas, Hilfsmittelversorgung bei speziellen Behinderungen etc.)
- Vorhandene medizinische Leitlinien oder Standard-Lehrmeinungen benennen und diskutieren, soweit dies für die Begutachtungs-Fragestellung von Belang ist.
- Punkte in medizinischen Gutachten aufzeigen, die regelmäßig oder im Einzelfall einer Erläuterung / näheren Ausführung bedürfen (z.B. konkrete Informationen für Leistungsträger wie Kasse oder DRV und/oder für die Versicherten über Voraussetzungen und Zugangswege zu alternativen Versorgungen; Erläuterung gesetzlicher Schranken in allgemeinverständlicher Form).
- Generell eine Adressaten-gerechte Darstellungsweise im sozialmedizinischen Gutachten unterstützen.
- Informationen über Strukturen des Gesundheitssystems und Lebenswelt-Faktoren / gesundheitliche Rahmenbedingungen aufzeigen, denen im Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen / Behinderungen / Gesundheitsstörungen eine Bedeutung zukommt und die daher das Begutachtungsergebnis beeinflussen können (z.B. Möglichkeiten ambulanter Versorgung am Wohnort; geographische Verteilung von Expertenzentren für bestimmte Erkrankungen; berufliche und/oder familiäre Belastungen; Hemmnisse oder möglicherweise aktivierbare fördernde Faktoren etc.)
- Themen-spezifische Kriterien der medizinischen Versorgungsqualität zusammenfassen.
- Auflistung von Informationsquellen zu themenspezifischen Qualitätsaspekten, spez. auch zur Qualifikation von Leistungsanbietern.
Und natürlich könnten solche Begutachtungsleitfäden, -Anleitungen, -Leitlinien auch zu einer "einheitlichen Begutachtung" beitragen - wenn hiermit eine an gleichartigen Vorgehensweisen und Qualitätsstandards ausgerichtete Begutachtung gemeint ist.
Effekte auf die Begutachteten
Am Institut für Medizinische Psychologie der Philipps-Universität Marburg wurde 2008 von Gabriele Sohr eine Promotionsarbeit vorgeelgt, die die Auswirkungen einer strukturierten, qualitätsgesicherten Vorgehensweise bei der Begutachtung auf die begutachteten Patienten untersuchte:
"Effekt einer strukturierten Vorgabe bei der sozialmedizinischen Beurteilung auf die Zufriedenheit, das Empfinden von Fairness, die Depressivität und das Schmerzempfinden bei chronischen Schmerzpatienten."
Im Ergebnis zeigte diese Untersuchung an 174 Patienten, dass die Begutachtung gemäß strukturiertem Leitfaden zu einem signifikant niedrigeren mittleren Summenwert der Zufriedenheit/Fairness mit der Begutachtung führte und diese Patienten somit (gemäß ermitteltem Effektmaß Effekt mittlerer bis kleiner Stärke) zufriedener mit der Begutachtung waren als die Patienten, die ohne Leitfaden begutachtet wurden.
Von der Doktorandin wurde die Hypothese formuliert, dass die Kriterien einer sozialmedizinischen Begutachtung sehr umfangreich und für Patienten teilweise schwer verständlich sind.
Da die in dieser Doktorarbeit betrachtete sozialmedizinische Begutachtung sich auf die Frage der zukünftigen Arbeits- und Erwerbsfähigkeit der Patienten und damit auf eine letztlich für die Patienten existenzielle Frage richtete, resultierte hieraus eine starke Anspannung und Belastung der begutachteten Patienten. Die Patienten konnten möglicherweise aufgrund der Strukturierten Vorgehensweise dem Verfahren der Begutachtung kognitiv besser folgen. Sie erfuhren in geordneter Reihenfolge eingangs die Kriterien der sozialmedizinischen Begutachtung und abschließend wurden Ihnen die körperlichen und psychischen Diagnosen mit ihren verbleibenden Funktionseinschränkungen erläutert.
Hypothese war, dass die strukturierte Darlegung zu besserer Nachvollziehbarkeit des Begutachtungsergebnisses führen würde. Der sich aus der Doppelrolle des Arztes als Betreuer / Behandler einerseits und als Begutachter anderseits ergebende Rollenkonflikt konnte durch die strukturierte Begutachtungsführung aufgelöst bzw. vermieden werden.
Die Promotionsarbeit von Frau Sohr zeigte, dass eine klare Rollenzuteilung des ärztlichen Gutachters im Rahmen der persönlichen Begutachtung beim Patienten die Wahrnehmung der Begutachtungssituation und der daraus resultierenden Beurteilung als sachlich und medizinisch korrekt unterstützt. Enttäuschungen über das vergleichsweise geringe Maß an Empathie - im Vergleich mit einem behandelnden Arzt – konnten so reduziert oder vermieden werden.
Entsprechend kann analog auch davon ausgegangen werden, dass auch in einem schriftlichen Gutachten eine strukturierte Vorgehensweise und eine klare Positionierung des Gutachters die Nachvollziehbarkeit des Ergebnisses und damit die Zufriedenheit der Begutachteten positiv beeinflussen können.
Zusammenfassung
Begutachtungsleitfäden, -Anleitungen, -Leitlinien, die sich an den oben genannten 13 Punkten orientieren, würden nicht dazu führen, dass bei gleichartiger sozialmedizinischer Fragestellung auch immer ein gleiches Ergebnis der Begutachtung resultieren würde.
Das Ziel, dass bestimmte Fragestellungen auch immer zu gleichlautenden sozialmedizinischen Ergebnissen führen, wäre nur erreichbar, wenn Besonderheiten des Einzelfalles in der Begutachtung keine Berücksichtigung finden würden.
Weblinks
- Sozialmedizinische Begutachtung für die gesetzliche Rentenversicherung
- Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR): Gemeinsame Empfehlungen
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