Erstellt am 06 Sep 2018 12:17 - Zuletzt geändert: 25 Apr 2021 13:42
In der Folge des so genannten "Patientenrechtegesetzes" wurde im fünften Sozialgesetzbuch der § 13 Abs. 3a SGB V eingeführt, der bestimmte Fristen für die Bearbeitung von Leistungsanträgen an die Kranken- und Pflegekassen vorschreibt.
Stellen gesetzlich Krankenversicherte bei ihrer Krankenversicherung Anträge auf Leistungen, muss die gesetzliche Krankenkasse über den jeweiligen Antrag sachlich innerhalb von 3 Wochen nach Eingang des Antrages entscheiden. Wenn sie den Antrag bewilligt, ist dies unproblematisch. Entscheidet sie nicht innerhalb von drei Wochen und lehnt später ab, fingiert das Gesetz aufgrund der Fristüberschreitung eine Bewilligung der Leistung durch die gesetzliche Krankenkasse. Hier hilft der Krankenkasse auch keine spätere Ablehnung mehr. Sofern die Krankenkasse den MDK mit einer gutachtlichen Stellungnahme beauftragt, muss sie innerhalb von insgesamt fünf Wochen sachlich entscheiden.
Alle Leistungen, die vor Inanspruchnahme genehmigt werden müssen, unterliegen gesetzlichen Fristen-Regelungen.
Die Fristen nach § 13 Abs. 3a SGB V gelten für Leistungen aus den Bereichen Fahrkosten, Haushaltshilfen, häusliche Krankenpflege, Hilfsmittel, Psychotherapie, Vorsorge und Rehabilitationsleistungen sowie Zahnersatzleistungen, die i. d. R. in Form einer Sachleistung bewilligt werden.
Für Heilmittel mit langfristigem Behandlungsbedarf gilt nach § 32 Abs. 1a SGB V eine abweichende Frist von vier Wochen, die allerdings unterbrochen wird, wenn "zur Entscheidung ergänzende Informationen des Antragstellers erforderlich sind".
Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation verweist § 13 Abs. 3a SGB V auch zusätzlich auf die Regelungen in § 14 SGB IX bis einschließlich § 24 SGB IX zur Koordinierung der Leistungen und zur Erstattung selbst beschaffter Leistungen.
Antragspflichtig sind darüber hinaus gemäß § 275 Abs. 1 SGB V auch gesetzliche "Leistungen in besonderen Fällen", die außerhalb der Regelversorgung zu erbringen sind. Hierunter fallen z. B. neue Behandlungsmethoden. Für entsprechende Anträge gelten die Fristenregelungen nach § 13 Abs. 3a SGB V ebenfalls.
Bis einschließlich 2017 wurde der § 13 Abs. 3a SGB V von den Sozialgerichten durchaus unterschiedlich ausgelegt. Einige Gerichte vertraten die Auffassung, dass eine Genehmigungsfiktion (also eine Leistungsverpflichtung der Kasse bei Fristüberschreitung) grundsätzlich nur für Leistungen des Regelfall-Katalogs der GKV eintreten könnte.
Diese Auslegung galt in der Folge der Rechtsprechung durch das Bundessozialgericht in den Urteilen BSG, 11.07.2017 - B 1 KR 1/17 R (Liposuktion) und BSG, 11.07.2017 - B 1 KR 26/16 R (Adipositaschirurgie) jedoch als unhaltbar:
In den beiden Urteilen BSG, 11.07.2017 - B 1 KR 1/17 R und BSG, 11.07.2017 - B 1 KR 26/16 R führte das BSG aus:
Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid mit der Rechtsfolge gleich, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten - wie hier - unmittelbar aus der fingierten Genehmigung ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht. Beschafft sich der Versicherte während des Verfahrens die Leistung selbst und begehrt Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten, ändert sich die statthafte Klageart nicht. …
Die Regelung ist auch sachlich anwendbar. Denn die Klägerin verlangt weder unmittelbar eine Geldleistung noch Erstattung für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation (Reha), sondern Erstattung für selbstbeschaffte Krankenbehandlung. Die Regelung erfasst ua Ansprüche auf Krankenbehandlung, nicht dagegen Ansprüche gegen KKn, die unmittelbar auf eine Geldleistung oder auf Leistungen zur medizinischen Reha gerichtet sind …
Grundvoraussetzung des Erstattungsanspruchs aufgrund Genehmigungsfiktion ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats, dass die beantragte Leistung im Sinne des Gesetzes nach Ablauf der Frist als genehmigt gilt (§ 13 Abs 3a S 6 SGB V). Das folgt aus Wortlaut und Binnensystem der Norm, Entstehungsgeschichte und Regelungszweck …
Der Antrag betraf eine Leistung, die die Klägerin für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV lag. Wie der Senat bereits entschieden hat (vgl BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 25 f mwN), bewirkt die Begrenzung auf "erforderliche Leistungen" nach § 13 Abs 3a S 7 SGB V eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Die Regelung soll es dem Berechtigten einerseits erleichtern, sich die ihm zustehenden Leistungen zeitnah zu beschaffen, ihn andererseits aber nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen. Die Klägerin durfte aufgrund der fachlichen Befürwortung ihres Antrags durch ihre Ärzte Liposuktionen zur Behandlung ihres Lipödems für geeignet und erforderlich halten, ohne Einzelheiten zu den Voraussetzungen ambulanter und stationärer Leistungserbringung wissen zu müssen. …
… Versicherte, denen ihre KK rechtswidrig Leistungen verwehrt, sind nicht prinzipiell auf die Selbstbeschaffung der Leistungen bei zugelassenen Leistungserbringern verwiesen. …
Die Auslegung des § 13 Abs. 3a SGB V durch das Bundessozialgericht wurde mit dem Sanktionscharakter der Genehmigungsfiktion begründet:
Bei einer Beschränkung auf Leistungen, die die den sonstigen Leistungsvoraussetzungen des SGB V genügen müssen, brächte das Gesetz keine Neuerung, da Prüfungsumfang und Zeitdauer des Verfahrens durch eine nachträgliche Überprüfung praktisch wieder identisch mit den Verfahren vor Inkrafttreten der Regelung wären. Somit hätte die Neuregelung in der Praxis keine spürbar positiven Effekte für den Schutz der Patientenrechte.
Mit Datum vom 26.05.2020 hat das BSG seine Rechtsprechung geändert und formuliert, dass die Genehmigungsfiktion in § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V keinen eigenständigen Anspruch auf die beantragte Sachleistung begründet, sondern dem Versicherten (nur) eine vorläufige Rechtsposition vermittelt (BSG-Urteil vom 26.05.2020 - Az. B 1 KR 9/18 R).
Vom Bayerischen Landessozialgericht wurde mit einem Urteil vom 27.02.2020 (L 20 KR 306/19) die "neue" Rechtsprechung des BSG hinsichtlich der Forderung, dass die "beantragte Leistung nicht objektiv offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegen" darf, damit die Genehmigungsfiktion eintreten kann, weiter ausgeführt. So heißt es in dem Urteilstext:
- Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein die Genehmigungsfiktion ausschließender Rechtsmissbrauch "objektiv Leistungen, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen" (BSG, Beschluss vom 11.10.2019, B 1 KR 66/18 B; vgl. auch Urteile vom 08.03.2016, B 1 KR 25/15 R, vom 11.07.2017, B 1 KR 26/16 R, vom 06.11.2018, B 1 KR 30/18 R, und vom 27.08.2019, B 1 KR 1/19 R, B 1 KR 8/19 R und B 1 KR 9/19 R), betreffe, und umschreibt dies in den genannten Entscheidungen regelmäßig damit, dass die die Genehmigungsfiktion beschränkenden Leistungsgrenzen der gesetzlichen Krankenversicherung "jedem Versicherten klar" sein müssten. Das BSG legt insofern eine objektivierte Sichtweise zugrunde und unterstellt ein für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs erforderliches individuelles Fehlverhalten des Versicherten für alle Fälle, in denen es nach allgemeinen Erfahrungssätzen so gut wie ausgeschlossen ist, dass dem Versicherte das Überschreiten der Grenzen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung bei seiner Antragstellung nicht bewusst ist, ohne aber ein individuelles Verschulden noch zu prüfen.
Mit Gerlach (vgl. ders., Anmerkungen zum Urteil des BSG vom 06.11.2018, B 1 KR 13/17 R, in: NZS 2019, 496, 500: "Sie" - gemeint ist die beantragte Leistung - "darf für ihn" - gemeint ist der Versicherte - "nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen." [Unterstreichung durch den Senat]) versteht der Senat den Begriff des Offensichtlich-außerhalb-des-Leistungskatalogs-der-gesetzlichen-Krankenversicherung-Liegens hingegen nicht rein objektiv, wie dies das BSG wohl tut, sondern unter Zugrundelegung eines subjektiven Sorgfaltsmaßstabs, der bei der Beantwortung der Frage, ob die beantragte Leistung nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt, zu beachten ist. Dies folgt für den Senat zwingend daraus, dass das Institut des Rechtsmissbrauchs, wie ihn das BSG als Begründung für die von ihm praktizierte Einführung der weiteren Prüfungsgesichtspunkte über den Gesetzeswortlaut hinaus zugrunde gelegt hat, ohne dass es dafür eine Stütze in den Gesetzesmaterialen zu § 13 Abs. 3a SGB V gäbe - diese haben die Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a SGB V lediglich mit der "Sanktionsmöglichkeit gegen die Krankenkasse" (Gesetzesbegründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten - Bundestags-Drucksache 17/10488, S. 32) begründet, ohne Anlass für eine Begrenzung dieser Sanktionsmöglichkeit zu sehen -, schon begrifflich eine auch subjektive Betrachtungsweise verlangt. Denn ein Rechtsmissbrauch setzt voraus, dass ein Recht in einer offenkundig missbräuchlichen Art und Weise geltend gemacht wird (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 03.11.2015, 2 BvR 2019/09); es ist also erforderlich, dass der Betroffene wider besseres Wissen oder zumindest in grob fahrlässiger Unkenntnis handelt und sein Begehren offensichtlich keine Grundlage hat. Diese Auslegung, die eine subjektive Komponente als unverzichtbare Voraussetzung für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs voraussetzt, entspricht auch der historischen Entwicklung des Rechtsmissbrauchsbegriffs als einem individuell geprägten Rechtsinstitut, bei dem das Unwerturteil - in Abgrenzung zum hier nicht einschlägigen institutionellen Rechtsmissbrauch, bei dem die aus einem Rechtsinstitut ergebenden Rechtsfolgen deshalb zurücktreten müssen, weil sie zu einem untragbareren Ergebnis führen würden - aus dem individuellen Verhalten der Partei resultiert (vgl. z.B. Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl. 2019, § 242, Rdnrn. 204 ff., 239).
Ein Ausschluss von "Leistungen, die offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen" (BSG, Beschluss vom 11.10.2019, B 1 KR 66/18 B), aus dem Anwendungsbereich der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V setzt daher neben der Tatsache, dass die Leistung (objektiv) nicht vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst ist, weiter voraus, dass der Antragsteller (subjektiv) dies weiß oder infolge** grober Außerachtlassung der allgemeinen Sorgfalt** nicht weiß (so auch die Regelung in § 18 Abs. 5 SGB IX). Eine bloße Rechtsunkenntnis, die ein einfaches Verschulden im Sinne einfacher Fahrlässigkeit begründen würde, weil wegen des Grundsatzes der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen Gesetze mit ihrer Verkündung allen Normadressaten als bekannt gelten und zwar ohne Rücksicht darauf, ob und wann diese tatsächlich davon Kenntnis davon erhalten haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.01.1999, 2 BvR 729/96; BSG, Urteil vom 06.05.2010, B 13 R 44/09 R), genügt nicht. Eine grob fahrlässige Unkenntnis in diesem Sinne ist einem Antragsteller (erst) dann vorzuwerfen, wenn er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (so die gesetzliche Definition in § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3, 2. Halbsatz SGB X), er also - in anderen Worten - "unter Berücksichtigung seiner individuellen Urteils- und Kritikfähigkeit seine Sorgfaltspflicht in außergewöhnlich großem Maße, d.h. in einem das gewöhnliche Maß einer Fahrlässigkeit in erheblich übersteigendem Ausmaß verletzt hat" (BSG, Urteil vom 14.06.1984, 10 RKg 21/83). Der subjektive Sorgfaltsmaßstab bringt es mit sich, dass auf die individuellen Möglichkeiten des Betroffenen abzustellen ist und besondere in seiner Person liegende Umstände zu beachten sind (vgl. zu der wertungsmäßig entsprechenden Regelung des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X: Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl. Stand: 10.02.2020, § 45 SGB X, Rdnr. 94 f., und Merten, in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 04/2018, § 45 SGB X, Rdnr. 68 ff.). Daher kann "grobe Fahrlässigkeit … nicht ohne weiteres deshalb bejaht werden, weil sich dem Versicherten die Erkenntnis bestimmter rechtlicher Merkmale ‚aufdrängen mußte" (BSG, Urteil vom 14.06.1984, 10 RKg 21/83), sondern es kommt auf die individuellen Umstände und Gründe an, also auch darauf, ob der Versicherte über besondere - medizinische oder juristische - Fachkenntnisse oder nur über einen laienhaften, möglicherweise auch aufgrund der individuellen Gegebenheiten besonderes niedrigen Wissensstand verfügt (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.2019, B 1 KR 36/18 R).
Die objektive Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich ein Rechtsmissbrauch ergeben könnte, trägt nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen der, der aus dem Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs Rechtsvorteile erzielt, also hier der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (zur Beweislast für das Vorliegen von Rechtsmissbrauch: vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.06.1963, 1 BvR 345/61; BSG, Urteile vom 19.12.1968, 5 RKn 57/67, und vom 20.11.2008, B 3 KN 1/08 KR R; Bundesfinanzhof, Urteil vom 29.01.1975, I R 135/70).
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