Erstellt am 22 Aug 2015 00:21
Zuletzt geändert: 14 Oct 2024 11:26
Begrifflichkeiten
Der Begriff "Rezepturarzneimittel" ist in den Begriffsbestimmungen des deutschen Arzneimittelgesetzes (AMG) nicht definiert. Er steht im Gegensatz zu den zulassungspflichtigen Fertigarzneimitteln (AMG § 4 Abs. 1: "Fertigarzneimittel sind Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden oder andere zur Abgabe an Verbraucher bestimmte Arzneimittel, bei deren Zubereitung in sonstiger Weise ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt oder die, ausgenommen in Apotheken, gewerblich hergestellt werden".)
Apotheken dürfen unter bestimmten Voraussetzungen für einzelne Personen Rezepturarzneimittel herstellen.
Die Apothekenbetriebsordnung definiert Rezepturarzneimittel in § 1a Abs. 8 ApBetrO folgendermaßen:
"Rezepturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das in der Apotheke im Einzelfall auf Grund einer Verschreibung oder auf sonstige Anforderung einer einzelnen Person und nicht im Voraus hergestellt wird."
Aspekte des Patientenschutzes und der Arzneimittelsicherheit sind auch bei Rezepturarzneimitteln zu beachten: Das Verbot der Abgabe von bedenklichen Arzneimitteln im Arzneimittelgesetz gilt auch für Rezepturarzneimittel. Diesbezüglich wird von der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) unregelmäßig eine Liste der "Bedenklichen Rezepturarzneimittel" herausgegeben, die auch über die Webseiten der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft als "Bedenkliche Rezepturarzneimittel - Tabelle der AMK" abrufbar ist.
Europaweit gelten darüber hinaus die Qualitätskriterien des Europäischen Rats und des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln und Gesundheitswesen (EDQM; Die EDQM verfügt unter anderem die rechtlichen, administrativen und technischen Grundlagen des Europäischen Arzneibuchs. Die Europäische Arzneibuch-Kommission ist Teil der EDQM.).
Die Qualität von Arzneimitteln, die in Apotheken als Rezepturen hergestellt werden, regelt der "Beschluss CM/Res(2016)1 zu den Anforderungen an die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln, die in Apotheken für die besonderen Bedürfnisse von Patienten zubereitet werden (angenommen vom Ministerkomitee am 1. Juni 2016.)"
Der Beschluss der EDQM enthält unter anderem folgende Aussagen:
Apothekenpräparate sind nicht zweckmäßig, wenn ein geeignetes pharmazeutisches Äquivalent mit einer arzneimittelrechtlichen Zulassung vorhanden ist. Der Apotheker sollte vor der Zubereitung prüfen, ob ein entsprechendes pharmazeutisches Äquivalent auf dem nationalen Markt verfügbar ist, wobei die Darreichungsform und die Stärke zu berücksichtigen sind.
Die an der Patientenversorgung beteiligten Fachleute sollten gemeinsam die Verantwortung dafür übernehmen, ob ein Apothekerpräparat einen zusätzlichen Nutzen bringen kann. Sie sollten den medizinischen Bedarf des Patienten berücksichtigen. Ein Apotheker sollte in der Lage sein, die Verschreibung eines Apothekenpräparats abzulehnen, wenn ein geeignetes pharmazeutisches Äquivalent auf dem nationalen Markt verfügbar ist, den Arzt darüber zu informieren, dass ein geeignetes pharmazeutisches Äquivalent verfügbar ist, und mit dem Arzt erörtern, ob eine besondere Notwendigkeit besteht, ein Apothekerzubereitung abzugeben. (Früher gab es dazu eine sehr schöne Webseite: (https://apothekenrezeptur.info) von Dr. Yorn Schmidt, die aber offenbar nicht mehr betrieben wird, leider.)
Auch bei Verordnung von Rezepturen ist - unabhängig von weiteren sozialrechtlichen Erwägungen - das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten.
In einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.02.2016 B 6 KA 3/15 R) wurde von den BSG-Richtern hierzu unter anderem folgendes erläutert:
"Ein Vertragsarzt kann verpflichtet sein, Arzneimittel zur Anwendung an seinen Patienten selbst gebrauchsfertig zu machen, statt diese zur Anfertigung als Rezeptur durch eine Apotheke zu verordnen, weil dies regelmäßig kostengünstiger und damit (allein) wirtschaftlich ist (…).
In begründeten Ausnahmefällen kann es aus Sachgründen - insbesondere wegen der Eigenart des zuzubereitenden Arzneimittels - geboten sein, die Zubereitung nicht in der Arztpraxis, sondern in einer Apotheke durchzuführen. Wäre dies der Fall, entfiele die Verpflichtung des Vertragsarztes, das Medikament selbst gebrauchsfertig zu machen, und damit zugleich die entsprechende Handlungsalternative, deren Bestehen Voraussetzung für die Feststellung des unwirtschaftlichen Handelns bei Anforderung der fertigen Mischung als Rezeptur von der Apotheke ist; zugleich fehlte es dann an einer "besonderen Konstellation" im (…) dargestellten Sinne."
Abzugrenzen von der Rezeptur-Herstellung sind gemäß der Ausführungen in dem oben genannten BSG-Urteil also so genannte Rekonstitutionen - einfache Maßnahmen der Aufbereitung von Fertigarzneimitteln, die problemlos in der Arztpraxis durchgeführt werden können und nicht dem pharmazeutischen Bereich zuzuordnen sind, wie z.B. das Anrühren pulverförmiger Arzneimittel oder die Verdünnung konzentrierter Fertigarzneimittel mit Wasser oder Kochsalzlösung zur infusionsfertigen Applikation.
Die Frage, ob ein Arzneimittel eine Rezeptur oder eine Rekonstitution ist oder nicht, ist nicht immer eindeutig zu beantworten. So werden z.B. Zytostatika und Parenteralia abrechnungstechnisch eindeutig als Rezepturarzneimittel behandelt, obwohl es sich in aller Regel um Fertigarzneimittel handelt, die lediglich einer speziellen, auf den einzelnen Patienten abgestimmten Dosierung und Vorbereitung vor der Anwendung bedürfen.
Weiter abzugrenzen sind auch so genannte Defekturarzneimittel. Die Apothekenbetriebsordnung definiert Defekturarzneimittel in § 1a Abs. 8 ApBetrO folgendermaßen:
"Defekturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs im Voraus an einem Tag in bis zu hundert abgabefertigen Packungen oder in einer diesen entsprechenden Menge hergestellt wird."
Die Herstellung von Defekturarzneimitteln erfolgt also nicht erst "nach" der ärztlicher Verschreibung für einen bestimmten Patienten, sondern schon vor Eingang solcher Verschreibungen, mithin "auf Vorrat". Defekturarzneimittel sind quasi Fertigarzneimittel, die der herstellende Apotheker ohne behördliche Zulassung in den Verkehr bringen darf (vgl. § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG), sofern sich das "in den Verkehr bringen" auf die Abgabe im Rahmen der Apothekenbetriebserlaubnis beschränkt; das heißt, die Defekturarzneimittel dürfen zulassungsfrei nur an Kunden der herstellenden Apotheke abgegeben werden.
Es gibt aber so genannte Einzelarzneimittel, die von Pharmaherstellern als Rezeptur-Produkte bereitgestellt und von öffentlichen Apotheke als Rezepturen im Rahmen der Defektur (verlängerte Rezeptur) hergestellt werden - siehe hierzu z.B.: Heck Bio-Pharma GmbH - Produkte - Rezepturen.
So genannte "Standardrezepturen" sind Rezepturen mit speziellen Apotheken-Herstellungsvorschriften. Man findet sie insbesondere im Deutschen Arzneimittel-Codex (DAC) oder Neuen Rezeptur-Formularium (NRF). Der Wortteil "Standard" bezieht sich hier lediglich auf ein standardisiertes Herstellungsverfahren, nicht jedoch auf Wirksamkeit und Verordnungsfähigkeit.
Nicht alle Rezepturen sind Standardrezepturen und nicht alle Standardrezepturen sind im DAC oder NRF aufgeführt!
Die Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) führt "Preisspannen sowie die Preise für besondere Leistungen der Apotheken (§§ 4 bis 7)" auf. Für Rezepturen können die Apotheken gemäß § 5 AMPreisV Apothekenzuschläge für Zubereitungen aus Stoffen in Rechnung stellen ("taxieren").
Klärung der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV
Formale Produkt-Klärung
Die sozialmedizinische Begutachtung von Rezepturen jeglicher Art muss im Prinzip dem gleichen Schema folgen, das auch bei Fertigarzneimitteln zugrunde gelegt wird. Ob es sich um ein Rezeptur- oder ein Fertigarzneimittel handelt, ist zunächst unerheblich. Im ersten Schritt kann eine formale Prüfung hinsichtlich der Einordnung der eingesetzten Produkte der Arzneimittelversorgung erfolgen.
Wenn es sich nach einer ersten formalen Prüfung bei einem Rezepturarzneimittel um eine, grundsätzlich verkehrsfähige bzw. arzneimittelrechtlich zulässige Arzneimittelrezeptur handelt, kann die Rezeptur grundsätzlich zu Lasten der GKV verordnungsfähig sein.
Dass Rezepturen nicht grundsätzlich von der Verordnungsfähigkeit im System der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen sind, lässt sich dem § 11 Abs. 2 der Arzneimittelrichtlinie entnehmen, der folgende Bestimmung enthält:
"Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt kann Arzneimittel nach Handelsnamen (Warenzeichen) oder Wirkstoffnamen (generische Bezeichnung) oder als Rezeptur verordnen."
Wenn eine Rezeptur auf einer Anwendung von Substanzen außerhalb der anerkannten Therapieprinzipien beruht, entspricht sie nicht den Qualitätskriterien des Europäischen Rats und des Europäischen Direktorats für die Qualität von Arzneimitteln und Gesundheitswesen und auch nicht den Anforderungen an eine Versorgung gemäß anerkanntem medizinischen Stand (§ 2 SGB V) und kann dann auch keine Leistungspflicht der GKV auslösen.
Zur Problematik der "Rezepturen mit Methodencharakter" gibt es hier einen eigenen Artikel im Wiki!
Leitlinie zu Rezepturen in der Dermatologie
- Deutsche Dermatologische Gesellschaft (DDG), Gesellschaft für Dermopharmazie (GD) und Berufsverband der Deutschen Dermatologen e.V. (BVDD), unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Leitlinie der methodischen Qualität "S2k" mit dem Titel "Gebrauch von Präparationen zur lokalen Anwendung auf der Haut". AWMF-Registernummer 013 - 092. Stand: 01.11.2017 , gültig bis 31.10.2022.
Laut Einleitungstext wurde diese Leitlinie speziell im Hinblick auf die große praktische Bedeutung erstellt, die Rezepturarzneimittel auch heutzutage insbesondere in der Dermatologie noch besitzen.
Der Leitlinie kann entnommen werden, dass Rezepturarzneimittel nicht zulassungspflichtig sind (§ 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG), aber vor Herstellung der Plausibilitätsprüfungspflicht zur Risikobeurteilung durch herstellende Apotheken unterliegen (§ 7 ApBetrO, § 8 AMG).
Weiter wird in der Leitlinie zu den gesetzlichen und untergesetzlichen Rahmenbedingungen ausgeführt, dass herstellende Apotheken in Deutschland garantieren müssen, dass von ihnen hergestellte Rezepturarzneimittel keine bedenklichen Arzneimittel sind (§ 5 AMG). Alle Ausgangsstoffe der Rezepturarzneimittel müssen durch die herstellenden Apotheken umfassend arzneimittelrechtlich im Hinblick auf die Verwendung in Arzneimitteln geprüft werden.
Gemäß Ausführungen der S2k-Leitlinie "Gebrauch von Präparationen zur lokalen Anwendung auf der Haut" sind Rezepturarzneimittel in der Dermatologie in bestimmten Einzelfällen therapeutisch nicht ersetzbar, da sie "die therapeutischen Optionen des Arztes erweitern bzw. in speziellen Behandlungssituationen eine effiziente Therapie erst ermöglichen."
Die Leitlinie enthält konkrete Empfehlungen gegen den Einsatz von Rezepturen, die mit jeweils 100%igem Expertenkonsens abgegeben wurden. Die Verordnung einer Rezeptur wird laut Leitlinie nicht empfohlen, wenn
- ein therapeutisch vergleichbares, geeignetes und wirtschaftliches Fertigarzneimittel zur Verfügung steht
- das zielgerichtete therapeutische Konzept nicht erkennbar ist
- inadäquate oder inkompatible bzw. zu hohe oder zu niedrige Wirkstoff- und Hilfsstoffkombinationen verordnet werden
- Wirk- oder Hilfsstoffe verwendet werden, die die Qualitätsanforderungen des AMG nicht erfüllen
- sie pharmakologisch-toxikologisch bedenkliche oder obsolete Bestandteile enthalten (siehe: Liste der Arzneimittelkommission der deutschen Apotheker)
- der akute Hautzustand einen sofortigen Therapiebeginn erfordert
- die Verordnungsmenge und der Aufwand der Herstellung in einem inadäquaten Verhältnis stehen und nicht kosteneffizient sind.
In Ergänzung gibt die Leitlinie auch konkrete Empfehlungen für den Einsatz von Rezepturen, die ebenfalls mit jeweils 100%igem Expertenkonsens abgegeben wurden. Die Verordnung einer Rezeptur wird empfohlen, wenn:
- kein Fertigarzneimittel mit einem bestimmten Wirkstoff bzw. in einer geeigneten Darreichungsform verfügbar ist
- bestimmte Wirk- oder Inhaltsstoffe in Fertigarzneimitteln nicht vertragen werden, nicht haltbar sind oder keine adäquaten Packungsgrößen zur Verfügung stehen
- in besonderen Behandlungssituationen ein Austausch von Wirkstoffkonzentrationen oder Wirkstoffklassen in der gleichen Grundlage notwendig ist
- bestimmte Krankheitsausprägungen und Verläufe Kombinationstherapien erfordern, die nicht als Fertigarzneimittel erhältlich sind
- bei chronisch Hauterkrankten durch eine Individualisierung der Therapie die Adhärenz und die Therapienutzen erhöht werden sollen
- bei größeren Verordnungsmengen die Verordnung einer Rezeptur kostengünstiger ist als die Verordnung eines therapeutisch vergleichbaren Fertigarzneimittels.
Die sozialmedizinische Überprüfung der Behandlung mit einem Rezepturarzneimittel im Einzelfall sollte unter Berücksichtigung und Prüfung der Einhaltung der genannten Leitlinien-Empfehlungen erfolgen.
Alle Darstellungen medizinischer Sachverhalte, Erkrankungen und Behinderungen und deren sozialmedizinische Einordnung und Kommentierungen hier im Wiki dienen nicht einer "letzt begründenden theoretisch-wissenschaftlichen Aufklärung", sondern sind frei nach Karl Popper "Interpretationen im Licht der Theorien."
Zitat nach: Bach, Otto: ''Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren''. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2, (Zitat: Seite 1)
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