Rezepturen mit Methodencharakter

Erstellt am 14 Jan 2022 12:24
Zuletzt geändert: 21 Mar 2024 17:55

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BSG-Rechtsprechung zum Methodencharakter bei Rezepturen

BSG-Urteil vom 23.07.1998

In einem Urteil vom 23.07.1998 formulierte das Bundessozialgericht (BSG Az. B 1 KR 19/96 R), dass auch Arzneitherapien Behandlungsmethoden sein können und in diesen Fällen vor Aufnahme in den Leistungskatalog der GKV der vorherigen Evaluation der Methode bedürfen. Bei Fertigarzneimitteln erfolge diese Evaluation im Rahmen des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens, weswegen die arzneimittelrechtliche Zulassung im Regelfall Voraussetzung für einen Leistungsanspruch des GKV-Versicherten sei (vgl. auch BSG-Urteil vom 27. September 2005 – B 1 KR 6/04 R).
Das Urteil vom 23.07.1998 stellte eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes dar. So heißt es wörtlich in diesem Urteil (B 1 KR 19/96 R; auch Jomol-Urteil genannt):

"Der Senat hat bisher die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung allerdings nur für Fälle verneint, in denen dem in Rede stehenden Präparat die nach dem AMG erforderliche Zulassung zum Verkehr von der zuständigen Bundesoberbehörde (früher: Bundesgesundheitsamt; jetzt: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) ausdrücklich versagt worden war [] Diese Situation besteht in gleicher Weise, wenn ein Zulassungsverfahren (noch) nicht durchgeführt wurde. [] Der Einwand der Revision, mit der Anknüpfung an das Zulassungserfordernis des Arzneimittelrechts werde der Anwendung alternativer Arzneitherapien in der Krankenversicherung der Boden entzogen, ist nicht nachvollziehbar; daß derartige Therapien von den ansonsten für die Anwendung von Arzneimitteln geltenden Vorschriften freizustellen seien, läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen. [] Die geltend gemachten Behandlungskosten wären aber auch dann nicht von der Beklagten zu tragen, wenn Jomol entsprechend dem Vorbringen der Revision nicht als Fertigarzneimittel, sondern als ein für den jeweiligen Behandlungsfall nach ärztlicher Verordnung zusammengestelltes und damit nach dem AMG zulassungsfreies Rezepturarzneimittel einzustufen wäre. Dem Erstattungsbegehren der Klägerin stünde dann § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V entgegen; denn danach dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V Empfehlungen ua über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit abgegeben hat."

Auf die Ausführungen des genannten Urteils (BSG, Urteil vom 23.07.1998 – B 1 KR 19/96 R) stützt sich seither die Auffassung, dass Arzneitherapien mittels neuer Rezepturen eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode darstellen können und dann möglicherweise der Evaluation gemäß § 135 SGB V durch den G-BA bedürfen würden.

Rechtsprechung zu Off-Label-Use und Rezepturarzneimittel

Die Auffassung, dass Arzneitherapien mittels neuer Rezepturen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden darstellen können, wurde in der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an verschiedenen Stellen bekräftigt. In einem BSG-Urteil zum Off-Label-Use (B 1 KR 37/00 R) vom 19.03.2002 finden sich folgende Ausführungen zu Rezepturarzneimitteln:

"Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegen zwar im Prinzip auch Pharmakotherapien der für vertragsärztliche Leistungen in § 135 Abs 1 SGB V vorgesehenen Qualitätsprüfung. […] Für Arzneitherapien gilt der Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs 1 SGB V jedoch nur, soweit es sich um die Anwendung von Rezepturarzneien oder anderen Arzneimitteln handelt, die im Einzelfall auf besondere Anforderung hergestellt werden. Da solche Präparate keine Zulassung nach dem AMG benötigen, bliebe die Qualitätskontrolle in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung lückenhaft, wenn ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit weder nach Arzneimittelrecht noch nach Krankenversicherungsrecht geprüft würden."

BSG-Urteil vom 19.10.2004

Einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.10.2004 (Az.: B 1 KR 27/02) zur Photodynamischen Therapie (PDT) war folgendes zu entnehmen:

"Nach der jüngeren Rechtsprechung unterliegen ambulant durchgeführte Pharmakotherapien dem Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 SGB V nur dann, wenn die eingesetzten Präparate keine Zulassung nach dem AMG benötigen, wie das beispielsweise bei Rezepturarzneien oder anderen Arzneimitteln der Fall ist, die für den einzelnen Patienten auf besondere Anforderung hergestellt werden (BSGE 82, 233 = SozR 3-2500 § 31 Nr. 5 - Jomol; BSGE 86, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 - ASI)…"

Ausführungen zum Status von Rezeptur-Arzneimitteln mit Methodencharakter fanden sich auch in dem BSG-Urteil (B 1 KR 30/06 R) vom 27.03.2007 zu Cannabinoiden als Rezepturarzneimittel zur Schmerztherapie:

"Nach der Rechtsprechung des Senats dürfen die Krankenkassen indes ihren Versicherten eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel, die vom G-BA bisher nicht empfohlen ist, grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des § 135 Abs 1 SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des G-BA gebunden sind (…)."

In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass das "Verbot des § 135 Abs 1 SGB V" keineswegs so uneingeschränkt gilt, wie es der Text der BSG-Entscheidung vermuten lässt. Hierzu finden sich weitere Erörterungen im Artikel zum sozialrechtlichen Konstrukt des Erlaubnisvorbehalt.

BSG-Urteil vom 13.10.2010

Eine weitergehende und die Interpretation der älteren Urteile teilweise modifizierende Auffassung fand sich in dem BSG-Urteil (B 6 KA 48/09 R) vom 13.10.2010 zu Dronabinol als Rezepturarzneimittel zur Behandlung einer Tumorkachexie:

"Dronabinol ist ein sog Rezepturarzneimittel und als solches nach dem AMG aufgrund der erteilten Herstellungserlaubnis (§ 13 AMG) auch verkehrsfähig, ohne dass eine Überprüfung seiner Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach dem AMG stattfinden musste oder stattgefunden hat…
Mit der Verkehrsfähigkeit sind Rezepturarzneimittel zugleich auch verordnungsfähig, es sei denn, nach anderen Regelungen ist ein Anerkennungsverfahren erforderlich. Dies ist gemäß § 135 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V der Fall, wenn der Einsatz des Arzneimittels Gegenstand einer neuen Arzneitherapie im Sinne dieser Regelung [= im Sinne von § 135 SGB V] ist, für die dann entsprechend den Vorgaben dieser Vorschrift eine empfehlende Richtlinie erforderlich ist (…).
Dementsprechend bedurfte es für den Einsatz von Dronabinol grundsätzlich einer anerkennenden Richtlinie gemäß § 135 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V. Denn es handelte sich um eine neue Arzneitherapie.
[…]
Neu ist eine Behandlungsmethode zunächst dann, wenn sie erst nach Inkrafttreten des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V - also erst in der Zeit seit dem 1.1.1989 - als kassen- bzw vertragsärztliche Behandlungsmethode praktiziert worden ist. Neu ist auch eine Behandlungsmethode, für die eine entsprechende Leistungsposition im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBM-Ä) zunächst nicht bestand, diese vielmehr erst später - nach dem 1.1.1989 - in das Leistungsverzeichnis des EBM-Ä aufgenommen wurde (…).
Nach diesen Abgrenzungen ist bei Arzneitherapien (…) darauf abzustellen, ob sie schon vor dem 1.1.1989 oder erst nach dem 1.1.1989 praktiziert wurden. Wurden sie schon vorher praktiziert, so sind sie nicht neu; dann käme nur eine Überprüfung durch den § 135 Abs 1 Satz 2 SGB V in Betracht, wonach die Verordnungsfähigkeit erst ausgeschlossen wäre, wenn der G-BA die Methode ausdrücklich für unvereinbar mit den Erfordernissen des § 135 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V erklärt hatte (§ 135 Abs 1 Satz 3 SGB V)."

Folgen des BSG-Urteils vom 13.10.2010 für die Prüfung des "Methodencharakters" eines Rezepturarzneimittels

"Alte Rezeptur" (bekannt vor dem 1.1.1989)

Prüfung, ob ein Rezepturarzneimittel bereits vor dem 1.1.1989 bekannt war und eingesetzt wurde:
Bei Rezepturen, die im Neuen Rezepturformularium (NRF) aufgeführt werden, können Informationen über das Ursprungsdatum oder das "Alter" einer Rezeptur dort aufgefunden werden.
Bei anderen Rezepturen müsste die Recherche in Abhängigkeit von der Indikation und dem betroffenen Fachgebiet weitere Quellen einschließen, um festzustellen, ab wann die Rezeptur "bekannt" im Sinne des BSG war.

Hinweise auf, in der Dermatologie bekannte/anerkannte und regelmäßig eingesetzte Rezepturen sowie weitere Erläuterungen zu Rezepturen finden sich auch in Altmeyers Enzyklopädie Dermatologie. Allerdings wird dort nicht bei allen Rezepturen dargelegt, ob diese aus der Zeit vor dem 1.1.1989 stammen.

Bei Rezepturen, die bereits vor dem 1.1.1989 bekannt waren und eingesetzt wurden, wäre zusätzlich zu prüfen,

  • ob eine nachträgliche Bewertung des Rezepturarzneimittels nach § 135 Abs. 1 SGB V zu einem negativen Ergebnis kam und in der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung (früher BUB-Richtlinie) ein Ausschluss des Arzneimittels von der vertragsärztlichen Versorgung aufgenommen wurde.
  • ob für einen der arzneilich wirksamen Bestandteile eine negative Bewertung oder Zulassungsversagung durch das BfArM oder die Europäische Arzneimittelbehörde EMA ausgesprochen wurde.
  • ob ein Ausschluss von der Verordnungsfähigkeit aufgrund von § 34 SGB V vorliegt.
  • ob es sich um eine bedenkliche Rezeptur gemäß Tabelle der als bedenklich eingestuften Stoffe und Rezepturen der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) handelt.
  • ob die Anwendung der eingesetzten Substanzen außerhalb der anerkannten Therapieprinzipien erfolgt.

"Neue Rezeptur" (bekannt/verwendet nach dem 1.1.1989)

Bei Rezepturen, die erst nach dem 1.1.1989 bekannt wurden oder eingesetzt wurden, wäre - in dem Fall, dass die Anwendung der eingesetzten Substanzen außerhalb der anerkannten Therapieprinzipien erfolgt, zu prüfen, ob eine Bewertung des Rezepturarzneimittels nach § 135 Abs. 1 SGB V bereits vorgenommen oder vom G-BA geplant wurde. Falls kein Bewertungsverfahren dokumentiert ist, die Therapie aber Voraussetzungen erfüllt, die für die Einordnung als Neue Methode durch den G-BA sprechen, so wäre der sozialrechtliche Status allerdings formal erst dann geklärt, wenn ein Bewertungsverfahren vom G-BA eingeleitet wird.

Prüfung singuläre Erkrankung - Hinweise Systemversagen - BVerfG-Beschluss 06.12.2005:

In den oben genannten Urteilen hat das BSG ausgeführt, dass eine Anwendung einer neuen Arzneitherapie mit einem Rezepturarzneimittel, auch dann, wenn es einer Neuen Methode entspricht oder entsprechen könnte, ausnahmsweise auch ohne empfehlende Richtlinie des G-BA in Frage kommt wenn:

Folgen des "Cannabis-als-Medizin-Gesetzes" für die "neue Arzneitherapie" mit Dronabinol und anderen, in § 31 Abs. 6 SGB V genannten Cannabis-Produkten

Durch die Einfügung von § 31 Abs. 6 SGB V in das fünfte Sozialgesetzbuch wurden alle "neuartigen Arzneitherapien", die auf dem Einsatz eines der im Gesetz benannten Cannabis-Produkte beruhen, quasi per Dekret zur Kassenleistung.
Das arzneimittelrechtliche Zulassungsverfahren sowie auch das Anerkennungsverfahren des G-BA für neuartige Arzneimitteltherapien nach § 135 SGB V wurden in diesem Fall für die betroffenen Cannabis-Produkte durch den Gesetzgeber durch den § 31 Abs. 6 SGB V ersetzt.

An einer grundsätzlichen Notwendigkeit der Überprüfung von Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit von Arzneimitteln, im Sinne der sozialrichterlichen Rechtsprechung, ändert der neue sozialrechtliche Status Cannabis-basierter Rezepturen eigentlich nichts.

BSG-Beschluss zu Strophantin als Rezepturarzneimittel

Der Anspruch Versicherter auf Versorgung mit Arzneimitteln (§ 27 Absatz 1 Satz 2 Nummer 3, § 31 SGB V) unterliegt dem Qualitäts- und dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 2 Absatz 1 Satz 3, § 12 Absatz 1 SGB V) und den im SGB V und im Arzneimittelgesetz dafür vorgesehenen Sicherungsmechanismen. Letztere fehlen weitgehend im Arzneimittelrecht für Rezepturarzneimittel.
Das Rezepturarzneimittel g-Strophanthin wird auch nicht vom Erlaubnisvorbehalt des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 135 Absatz 1 Satz 1 SGB V erfasst, da es sich nicht um eine “neue“ Behandlungsmethode handelt. Die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dieses Rezepturarzneimittels ist deshalb von den Krankenkassen und - im Streitfall - von den Sozialgerichten festzustellen.
Vorliegend hat das Landessozialgericht nicht festgestellt, ob zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne vorliegen, dass der Erfolg einer Behandlung in einer ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen belegt ist. Sollten valide Studien zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit fehlen, würde sich daraus kein Systemversagen ergeben.
Ob die Voraussetzungen des § 2 Absatz 1a SGB V vorliegen, kann der Senat ebenfalls nicht abschließend entscheiden. Das Vorliegen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung wird - entgegen der Ansicht des Landessozialgericht - nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass sich ein tödlicher Krankheitsverlauf nach ärztlicher Einschätzung nicht vor Ablauf von zwei Jahren verwirklichen wird. Zur Beurteilung einer solchen Extremsituation sind vielmehr stets die konkreten Umstände des Einzelfalls heranzuziehen.
Zu berücksichtigen ist etwa ein durch die Unumkehrbarkeit des tödlichen Krankheitsverlaufs verursachter spezifischer Zeitdruck. Dem Sinn und Zweck des § 2 Absatz 1a SGB V widerspräche es, einen Anspruch auf Behandlung mangels Zeitdruck zu verneinen, wenn jede spätere Behandlung zu spät käme und den Eintritt des Todes nicht mehr verhindern könnte.


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Zitat nach: Bach, Otto: ''Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren''. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2, (Zitat: Seite 1)
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