Erstellt am 30 Nov 2021 11:58
Zuletzt geändert: 12 Dec 2022 11:05
Antithymozytenglobulin - Zulassungssituation, Alternativpräparate
Antithymozytenglobulin (ATG) vom Pferd (ATGAM®) war seit 2007 nicht mehr in Deutschland erhältlich und musste personenbezogen importiert werden. (einzelimportiertes Arzneimittel).
Das Präparat ATGAM® der Firma Pfizer ist u.a. in den USA arzneimittelrechtlich zugelassen. In den USA besteht auch eine Zulassung zur Therapie der moderaten und schweren aplastischen Anämie bei Patienten, die für eine Knochenmarkstransplantation ungeeignet sind oder eine solche nicht erhalten können.
In Deutschland war ATG vom Pferd (Lymphoglobulin®) bis 11/2013 arzneimittelrechtlich zugelassen. Mit Datum vom 08.11.2013 erlosch die Zulassung gemäß § 31 Abs. 1 Nr. 1 Arzneimittelgesetz (AMG), da die Zulassung in drei Jahren nicht in Verkehr gebracht wurde bzw. die Zulassung in drei aufeinanderfolgenden Jahren nicht in Verkehr befindlich war.
Als alternatives Präparat stand in der BRD zur Behandlung des vorliegenden Krankheitsbilds ATG vom Kaninchen zur Verfügung (Thymoglobuline®). Dies ist zur Behandlung einer aplastischen Anämie zugelassen, wenn andere Behandlungen nicht greifen.
Aufgrund einer randomisierten, kontrollierten klinischen Studie von Scheinberg et al. (2011) ist für den Einsatz von ATG vom Pferd gegenüber ATG vom Kaninchen eine signifikant bessere Wirksamkeit und ein signifikant verbessertes Gesamtüberleben für den Einsatz von ATG vom Pferd nachgewiesen worden.
In der aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie wird empfohlen, ATG vom Pferd gegenüber dem vom Kaninchen stammenden Produkt zu bevorzugen.
Seit 02.11.2022 steht das Produkt Atgam® (Pfizer) jedoch in Deutschland wieder im Handel zur Verfügung; nachdem es bereits im Januar dieses Jahres die Zulassung des Paul-Ehrlich-Instituts erhalten hatte:
Pressemeldung der ifap-GmbH:
https://www.ifap.de/deu_de/magazin/artikel-neueinfuehrung/atgam-r-bei-aplastischer-anaemie.html
Sozial- und leistungsrechtlicher Hintergrund
Hinsichtlich der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für die Arzneimitteltherapie mit legal aus dem Ausland importierten Arzneimitteln war vom Bundessozialgerichts (BSG) in einem Urteil vom 04.04.2006 festgestellt worden, dass in Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel grundsätzlich nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen gehören können, weil ihre Unbedenklichkeit, Wirksamkeit und Sicherheit nicht durch eine, nach deutschem Recht zuständige, Behörde geprüft wurden.
Allerdings formulierte das Bundessozialgericht im Urteil vom 04.04.2006 Kriterien, bei deren Erfüllung solche Arzneimittel ausnahmsweise doch zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung gehören können.
So kommt gemäß der genannten BSG-Rechtsprechung eine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen für, aus dem Ausland importierte und in Deutschland nicht zugelassene Arzneimittel dann in Frage, wenn es um die Behandlung einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlichen oder anderen akut notstandsähnlichen Erkrankung geht, für deren adäquate Behandlung keine anerkannten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Dabei müssen zusätzlich, gemäß dem Urteil vom 04.04.2006, für die beabsichtigte Arzneimitteltherapie auf Indizien gestützte Hinweise für eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf positive, spürbare Einwirkung auf den Behandlungsverlauf oder auf Heilung vorliegen.
Darüber hinaus sollte hinsichtlich der Therapie mit einem im Einzelfall importierten Arzneimittel
a. Bezogen auf den konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bei Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen überwiegen.
b. Die - in erster Linie fachärztliche - Behandlung auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden.
Bei aktuell gegebener Zulassung und Verfügbarkeit in Deutschland ist diese Rechtsprechung für die Behandlung mit ATGAM® nicht mehr zutreffend und somit nicht mehr maßgeblich.
Sonderregelung des § 2 Absatz 1a SGB V
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wurde durch den, zum 01.01.2012 neu in das fünfte Sozialgesetzbuch (SGB V) eingefügten § 2 Absatz 1a ergänzt:
§ 2 Absatz 1a SGB V formuliert gesonderte Regelungen für gesetzlich krankenversicherte Patientinnen und Patienten mit einer regelmäßig tödlichen oder einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für deren Behandlung keine anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht: Gemäß § 2 Absatz 1a SGB V können diese Patientinnen und Patienten auch Leistungen außerhalb des Leistungskatalogs der Krankenkasse beanspruchen – auch dann, wenn für diese Leistungen noch keine gesicherten Erkenntnisse dazu vorliegen, ob die Qualität und Wirksamkeit dieser Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen (Dies wird für alle anderen Fälle in der gesetzlichen Krankenversicherung vorausgesetzt; § 2 Absatz 1 Satz 3 SGB V).
Auch Todkranke ohne sonstige therapeutische Optionen können allerdings unter Berufung auf § 2 Absatz 1a SGB V keine beliebigen Leistungen von der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen; das Gesetz bestimmt ausdrücklich, dass "eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf" auch für Leistungen bestehen muss, die unter Berufung auf § 2 Abs. 1a SGB V beantragt werden.
Behandlungsstandards / Empfehlungen für die aplastische Anämie
Bei der aplastischen Anämie handelt es sich um eine seltene, schwerwiegende und lebensbedrohliche Erkrankung:
Die aplastische Anämie tritt in Europa und Nordamerika jährlich bei ca. 2 – 3 von 1.000.000 Einwohnern auf. Randomisierte kontrollierte Studien sind bei einer derart seltenen Erkrankung nicht möglich. Die vorhandenen Leitlinien beruhen auf Erfahrungen, die von Experten für das Krankheitsbild an nationalen Zentren und im Rahmen internationalen wissenschaftlichen Austauschs gewonnen werden. Insbesondere existiert in Europa ein europäisches Register für die vorliegende Erkrankung. Dieses Register der European Society for Blood and Marrow Transplantation (EBMT) wird für Analysen zur Therapieoptimierung bei dieser seltenen Erkrankung genutzt.
Unbehandelt besteht eine Mortalität von 70% nach Erstdiagnose einer aplastischen Anämie. Bei einer schweren oder sehr schweren aplastischen Anämie (SAA bzw. VSAA) wird die Mortalität mit annähernd 80% innerhalb von 2 Jahren unter alleiniger supportiver Therapie angeführt.
Unter einer immunsuppressiven Therapie wird die 5-Jahres-Überlebensrate mit 70 – 90% und die 10-Jahres-Überlebensrate mit 50 – 60% angegeben.
Bei Knochenmarkstransplantation von einem HLA-identischen Geschwister wird die 10-Jahres-Überlebensrate mit 64% (stark altersabhängig) angegeben.
Bei der aplastischen Anämie zeigt sich eine biphasische Altersverteilung mit einem Gipfel zwischen dem 10. und 25. Lebensjahr sowie nach dem 60. Lebensjahr. Die häufigste Form der aplastischen Anämie ist mit ca. 80% die idiopathische aplastische Anämie. Trotz der Seltenheit der Erkrankung existieren internationale und nationale Leitlinienempfehlungen zur Diagnostik und Therapie, wie vorangehend bereits dargelegt.
Antithymozytenglobulin (ATG) vom Pferd (ATGAM®): Indikation, Dosierung, Abrechnung
Den US-amerikanischen Fachinformationen zu dem Arzneimittel Antithymozytenglobulin (ATG) vom Pferd (ATGAM®) sind die zugelassenen Indikation für den Einsatz von ATGAM® zu entnehmen; Indikationskriterien lassen sich auch der genannten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie entnehmen. Eine medizinische Behandlungsindikation kann somit zweifelsfrei festgestellt werden.
Aufgrund möglicher Infusionsreaktionen und des Risikos einer Serumkrankheit sollen ATG nur im Rahmen einer stationären Behandlung nach § 39 SGB V verabreicht werden.
Aus sozialmedizinischer Sicht ist diesbezüglich darauf hinzuweisen, dass für die Gabe von ATG (Gabe von Anti-Human-T-Lymphozyten-Immunglobulinen, parenteral) im DRG-Fallpauschalen-/Entgeltsystem bundeseinheitlich ein Zusatzentgelt vereinbart ist (ZE2020-46). Dabei enthält der Fallpauschalen-Katalog zu diesem Zusatzentgelt die Information, dass das Zulassungsrecht von der Katalogaufnahme unberührt bleibt und dass die Kostenträger im Einzelfall entscheiden, ob die Kosten dieser Medikamente übernommen werden.
Das Zusatzentgelt hat keinen Fixpreis und ist durch jedes Krankenhaus individuell mit den Kostenträgern (Krankenkasse) zu verhandeln. Daher wird in den Erläuterungen (Hinweisen) des Fallpauschalenkatalogs ausgeführt, dass nach § 5 Abs. 2 Satz 3 FPV 2020 bis zum Beginn des Wirksamwerdens der neuen Budgetvereinbarung weiter die bisher krankenhausindividuell vereinbarten Entgelte zu erheben sind.
Prinzipiell ist somit die Gabe von ATG vom Pferd im Rahmen einer stationären Behandlung nach § 39 SGB V über das DRG-Fallpauschalen/Entgeltsystem abgebildet und abrechenbar. Ob darüber hinaus zusätzliche Kostenerstattungen oder seitens des Krankenhauses ein Anspruch auf eine vorherige Kostenzusage für im Rahmen einer stationären Behandlung nach § 39 SGB V eingesetzten Arzneimitteltherapie besteht – auch unter Berücksichtigung § 2 Abs. 1 a SGB V – obliegt einer leistungsrechtlichen Prüfung durch die Krankenkasse.
Laut der US-amerikanischen Gebrauchsinformation wird ATGAM® bei der aplastischen Anämie in einer Dosierung von 10 bis 20 mg pro kg Körpergewicht und Tag für 8 bis 14 Tage und ggf. anschließend jeden 2. Tag (je nach Verlauf der Erkrankung) bis zu insgesamt 21 Dosen empfohlen.
In der oben angeführten randomisierten, kontrollierten klinischen Studie von Scheinberg (2011), wurde ATGAM® in einer Dosierung von 40 mg pro kg Körpergewicht über insgesamt 4 Tage verabreicht.
Zusammenfassung:
Aus medizinischer gutachterlicher Sicht handelt es sich bei Fällen mit aplastischer Anämie immer um Einzelfälle, die unter dem Gesichtspunkt des § 2 Abs. 1a SGB V zu betrachten sind. Die beantragte Leistung kann in diesen Fällen sozialmedizinisch empfohlen werden.
Aus sozialmedizinischer Sicht ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass die medizinische Indikation einer stationären Behandlung, unabhängig von einer im Vorfeld abgegebenen sozialmedizinischen Stellungnahme, nach § 39 SGB V durch das Krankenhaus bei der Aufnahme (erneut) zu prüfen ist. Eine nachgelagerte Abrechnungsprüfung kann nicht durch eine sozialmedizinische Stellungnahme im Vorfeld "vorweg genommen" werden.
Die leistungsrechtliche Entscheidung fällt in den Kompetenzbereich der Krankenkasse.
Quellen/Literatur:
- Führer M, Rampf U, Baumann I, et al. Immunosuppressive therapy for aplastic anemia in children: a more severe disease predicts better survival. Blood. 2005;106(6):2102-2104. doi:10.1182/blood-2005-03-0874.
- Scheinberg P, Nunez O, Weinstein B, et al. Horse versus rabbit antithymocyte globulin in acquired aplastic anemia [published correction appears in N Engl J Med. 2018 Jun 13;:null]. N Engl J Med. 2011;365(5):430-438. doi:10.1056/NEJMoa1103975.
- Yoshimi A, Niemeyer CM, Führer MM, Strahm B. Comparison of the efficacy of rabbit and horse antithymocyte globulin for the treatment of severe aplastic anemia in children. Blood. 2013;121(5):860-861. doi:10.1182/blood-2012-10-461509.
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Zitat nach: Bach, Otto: ''Über die Subjektabhängigkeit des Bildes von der Wirklichkeit im psychiatrischen Diagnostizieren und Therapieren''. In: Psychiatrie heute, Aspekte und Perspektiven, Festschrift für Rainer Tölle, Urban & Schwarzenberg, München 1994, ISBN 3-541-17181-2, (Zitat: Seite 1)
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